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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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bürgerliche Gesetz fügen. In der Zweiten findet sich Raum für jede religiöse
Institution.

Und die einfache und redliche Befolgung der Einen und der Andern ist
jenes Geheimniß, das eben durch seine Einfachheit noch niemals entdeckt wor¬
den ist, und wer weiß, ob es unter den verwirrten Leidenschaften und den
trügerischen und complizirten Begriffen der Menschheit jemals entdeckt werden
wird. Es ist nöthig, daß die katholischen Nationen nicht nur sich selbst
leben, sondern daß sie auch nicht die Ursache zum Ruin der andern werden,
und es ist nicht minder nothwendig, daß sie endlich ihr moralisches Gleich¬
gewicht finden. Nothwendigkeit ist es, daß sie dieses moralische Gleichgewicht,
diese eigentlichste Lebensbedingung kennen, aber sie werden sie nie unter den
Auspicien des unerbittlichen Mysticismus der katholischen Partei, noch in der
vollständigen Auflösung jedes Grundsatzes finden.

Sie werden sie auch nicht im Skepticismus finden, denn aus Nichts kann
nur Nichts kommen, und ebensowenig werden sie sie in neuen Spaltungen
finden, denn diese erzeugen Zersplitterung und Uneinigkeit, und indem sie den
thätigen und kühnen Theil trennen, entkräften sie ihn und überlassen den
andern der Reaktion und dem heimlichen Groll. Sie werden sie nur in einer
durchgreifenden Wandlung ihrer Art zu fühlen finden, eine Frucht des Ge¬
dankens und der Zeit, durch welche ihre religiösen und ihre bürgerlichen Ein¬
richtungen, wenn sie sich um die ewigen Gesetze der Moral und der Wahrheit
bewegen, übereinstimmen werden. Es giebt nicht zwei entgegengesetzte Wahr¬
heiten, wie es nicht zweierlei Tugend gibt, die sich widerspricht. Es giebt nicht
die eine Wahrheit durch die Religion und eine andere durch die Wissenschaft.
Und es giebt nicht ein Gut für die eine Nation, das für eine andere gar
so schlecht wäre.

All diese Gegensätze sind künstliche und tragen den Irrthum in sich selbst.
Daraus folgt, daß eine wahre und große Religion, eine Religion, die wirk¬
lich ihre feste und weite Grundlage auf der Erde und ihre Spitze hoch oben im
Himmel hat, sich niemals in wahrem und wirklichem Widerspruch mit irgend
einer Wahrheit und irgend einer Tugend finden kann.

Den katholischen Nationen ist vor allem nöthig, das Urtheil über Gutes
und Böses zu berichtigen, zu klären und zu vereinfachen, sie müssen befreit
werden von all dem künstlichen Bösen, mit dem sie überbürdet gewesen sind,
damit sie ein klares und einfaches Unterscheidungsvermögen für das wirklich
Böse erlangen und damit ihre Kräfte bereit seien, es zu bekämpfen. Und
außerdem müssen sie diesen Kampf mit dem Geist und nicht mit dem Buch¬
staben zu führen lernen, denn der Geist bildet die Sitten und der Buchstabe
weiß sie kaum zu verbessern. (Zuiä legvs sine moribus?

Um aber diesen Erfolg zu erzielen ist es nöthig, daß die ecclesiastische


bürgerliche Gesetz fügen. In der Zweiten findet sich Raum für jede religiöse
Institution.

Und die einfache und redliche Befolgung der Einen und der Andern ist
jenes Geheimniß, das eben durch seine Einfachheit noch niemals entdeckt wor¬
den ist, und wer weiß, ob es unter den verwirrten Leidenschaften und den
trügerischen und complizirten Begriffen der Menschheit jemals entdeckt werden
wird. Es ist nöthig, daß die katholischen Nationen nicht nur sich selbst
leben, sondern daß sie auch nicht die Ursache zum Ruin der andern werden,
und es ist nicht minder nothwendig, daß sie endlich ihr moralisches Gleich¬
gewicht finden. Nothwendigkeit ist es, daß sie dieses moralische Gleichgewicht,
diese eigentlichste Lebensbedingung kennen, aber sie werden sie nie unter den
Auspicien des unerbittlichen Mysticismus der katholischen Partei, noch in der
vollständigen Auflösung jedes Grundsatzes finden.

Sie werden sie auch nicht im Skepticismus finden, denn aus Nichts kann
nur Nichts kommen, und ebensowenig werden sie sie in neuen Spaltungen
finden, denn diese erzeugen Zersplitterung und Uneinigkeit, und indem sie den
thätigen und kühnen Theil trennen, entkräften sie ihn und überlassen den
andern der Reaktion und dem heimlichen Groll. Sie werden sie nur in einer
durchgreifenden Wandlung ihrer Art zu fühlen finden, eine Frucht des Ge¬
dankens und der Zeit, durch welche ihre religiösen und ihre bürgerlichen Ein¬
richtungen, wenn sie sich um die ewigen Gesetze der Moral und der Wahrheit
bewegen, übereinstimmen werden. Es giebt nicht zwei entgegengesetzte Wahr¬
heiten, wie es nicht zweierlei Tugend gibt, die sich widerspricht. Es giebt nicht
die eine Wahrheit durch die Religion und eine andere durch die Wissenschaft.
Und es giebt nicht ein Gut für die eine Nation, das für eine andere gar
so schlecht wäre.

All diese Gegensätze sind künstliche und tragen den Irrthum in sich selbst.
Daraus folgt, daß eine wahre und große Religion, eine Religion, die wirk¬
lich ihre feste und weite Grundlage auf der Erde und ihre Spitze hoch oben im
Himmel hat, sich niemals in wahrem und wirklichem Widerspruch mit irgend
einer Wahrheit und irgend einer Tugend finden kann.

Den katholischen Nationen ist vor allem nöthig, das Urtheil über Gutes
und Böses zu berichtigen, zu klären und zu vereinfachen, sie müssen befreit
werden von all dem künstlichen Bösen, mit dem sie überbürdet gewesen sind,
damit sie ein klares und einfaches Unterscheidungsvermögen für das wirklich
Böse erlangen und damit ihre Kräfte bereit seien, es zu bekämpfen. Und
außerdem müssen sie diesen Kampf mit dem Geist und nicht mit dem Buch¬
staben zu führen lernen, denn der Geist bildet die Sitten und der Buchstabe
weiß sie kaum zu verbessern. (Zuiä legvs sine moribus?

Um aber diesen Erfolg zu erzielen ist es nöthig, daß die ecclesiastische


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[0334] bürgerliche Gesetz fügen. In der Zweiten findet sich Raum für jede religiöse Institution. Und die einfache und redliche Befolgung der Einen und der Andern ist jenes Geheimniß, das eben durch seine Einfachheit noch niemals entdeckt wor¬ den ist, und wer weiß, ob es unter den verwirrten Leidenschaften und den trügerischen und complizirten Begriffen der Menschheit jemals entdeckt werden wird. Es ist nöthig, daß die katholischen Nationen nicht nur sich selbst leben, sondern daß sie auch nicht die Ursache zum Ruin der andern werden, und es ist nicht minder nothwendig, daß sie endlich ihr moralisches Gleich¬ gewicht finden. Nothwendigkeit ist es, daß sie dieses moralische Gleichgewicht, diese eigentlichste Lebensbedingung kennen, aber sie werden sie nie unter den Auspicien des unerbittlichen Mysticismus der katholischen Partei, noch in der vollständigen Auflösung jedes Grundsatzes finden. Sie werden sie auch nicht im Skepticismus finden, denn aus Nichts kann nur Nichts kommen, und ebensowenig werden sie sie in neuen Spaltungen finden, denn diese erzeugen Zersplitterung und Uneinigkeit, und indem sie den thätigen und kühnen Theil trennen, entkräften sie ihn und überlassen den andern der Reaktion und dem heimlichen Groll. Sie werden sie nur in einer durchgreifenden Wandlung ihrer Art zu fühlen finden, eine Frucht des Ge¬ dankens und der Zeit, durch welche ihre religiösen und ihre bürgerlichen Ein¬ richtungen, wenn sie sich um die ewigen Gesetze der Moral und der Wahrheit bewegen, übereinstimmen werden. Es giebt nicht zwei entgegengesetzte Wahr¬ heiten, wie es nicht zweierlei Tugend gibt, die sich widerspricht. Es giebt nicht die eine Wahrheit durch die Religion und eine andere durch die Wissenschaft. Und es giebt nicht ein Gut für die eine Nation, das für eine andere gar so schlecht wäre. All diese Gegensätze sind künstliche und tragen den Irrthum in sich selbst. Daraus folgt, daß eine wahre und große Religion, eine Religion, die wirk¬ lich ihre feste und weite Grundlage auf der Erde und ihre Spitze hoch oben im Himmel hat, sich niemals in wahrem und wirklichem Widerspruch mit irgend einer Wahrheit und irgend einer Tugend finden kann. Den katholischen Nationen ist vor allem nöthig, das Urtheil über Gutes und Böses zu berichtigen, zu klären und zu vereinfachen, sie müssen befreit werden von all dem künstlichen Bösen, mit dem sie überbürdet gewesen sind, damit sie ein klares und einfaches Unterscheidungsvermögen für das wirklich Böse erlangen und damit ihre Kräfte bereit seien, es zu bekämpfen. Und außerdem müssen sie diesen Kampf mit dem Geist und nicht mit dem Buch¬ staben zu führen lernen, denn der Geist bildet die Sitten und der Buchstabe weiß sie kaum zu verbessern. (Zuiä legvs sine moribus? Um aber diesen Erfolg zu erzielen ist es nöthig, daß die ecclesiastische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/334>, abgerufen am 26.06.2024.