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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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suchen? Und nun, da die christliche Liebe der christlichen Religion genommen
ist, was bleibt ihr da, wodurch sie noch bestehen kann? Das Papstthum
gleicht in seiner jetzigen Erscheinung einer geschichtlichen Mumie, die sich den
Anschein eines verlorenen Lebens und Glaubens giebt, aber die nicht mehr
dazu taugt, weder das Eine noch den Andern wieder zu erwecken. Es versteht
sich wohl, daß ein solcher Kadaver, im Schooße Italiens aufbewahrt, nicht
anders als lästig wirken und unsre Bewegungen hemmen kann. Dieser Kadaver
hat auch noch einige Bewunderer um sich herum, und unter diesen manchen,
der darauf speculirt, einen fetten Gewinnst dabei zu finden; das neue
Italien, das diesen ganzen Schacher mit geheiligten Dingen dulden muß,
würde sich bei weitem besser stehen, wenn es sich von diesem Haufen gemeiner
Betrüger befreien könnte, aber weil die Diplomatie verlangt, daß die volle
Höflichkeit auch gegen die todten Feinde beobachtet werde, geben wir uns den
Anschein, als achteten und verehrten wir die Reliquien des römischen Papst¬
thums, obwohl wir Alle im Innersten überzeugt sind, daß Pius IX., wenn
nicht der letzte der Päpste, doch wenigstens der letzte sein wird, der viel von
sich reden macht; es müßte denn nach ihm ein reformatorischer Papst auf¬
stehen (aber auf welchen der jetzigen Kardinäle läßt sich eine ähnliche Hoff¬
nung setzen?).

Aber wenn ein solcher Papst erstünde, würde die sogenannte katholische
Religion aufhören und in eine neue, religiöse Phase eintreten. Zu dieser
müßten all die Gläubigen und die guten Italiener schwören, die sich leicht
mit der Religion wieder aussöhnen werden, wenn diese wieder die erleuchtete
Trägerin von Moralität und Civilisation geworden ist, unterdessen ist sie jetzt
nur ein verächtliches Werkzeug der Reaktion, um uns in eine Vergangenheit
der Knechtschaft und Barbarei zurückzuführen und das Köstlichste zu unter¬
drücken, das der Mensch besitzt, seine Vernunft und sein Gewissen.

Ein einsichtiger Augenzeuge des letzten vaticanischen Concils endigt, nach¬
dem er Tag für Tag seine Beobachtungen aufgeschrieben, mit der Hoffnung
auf eine Aussöhnung der Kirche mit dem Staate oder mit der bürgerlichen
Gesellschaft in Italien. Er schreibt: "Uns steht nicht zu, in dem, was die
Kirche betrifft, zu entscheiden, bis zu welchem Punkt und in welcher Weise
die Veränderungen, welche schon durch die Existenz der katholischen Gesellschaft
verlangt werden, sich im Bereich der Gesetze vollziehen können und sollen,
wie es uns nicht zusteht dem bestimmten und unaufhaltsamen Fortschritt der
menschlichen Gesellschaft die Bahn und die Grenzen zu bezeichnen. Die Eine
wie die Andere haben beständig ein furchtbares Feld für jedes gute Wirken,
das jeder wohlthätigen Vereinigung günstig ist, wo sich ihre Thätigkeit, ihr
Evangelium, ihre Freiheit entfalten können. Dem Ersten kann sich jedes


suchen? Und nun, da die christliche Liebe der christlichen Religion genommen
ist, was bleibt ihr da, wodurch sie noch bestehen kann? Das Papstthum
gleicht in seiner jetzigen Erscheinung einer geschichtlichen Mumie, die sich den
Anschein eines verlorenen Lebens und Glaubens giebt, aber die nicht mehr
dazu taugt, weder das Eine noch den Andern wieder zu erwecken. Es versteht
sich wohl, daß ein solcher Kadaver, im Schooße Italiens aufbewahrt, nicht
anders als lästig wirken und unsre Bewegungen hemmen kann. Dieser Kadaver
hat auch noch einige Bewunderer um sich herum, und unter diesen manchen,
der darauf speculirt, einen fetten Gewinnst dabei zu finden; das neue
Italien, das diesen ganzen Schacher mit geheiligten Dingen dulden muß,
würde sich bei weitem besser stehen, wenn es sich von diesem Haufen gemeiner
Betrüger befreien könnte, aber weil die Diplomatie verlangt, daß die volle
Höflichkeit auch gegen die todten Feinde beobachtet werde, geben wir uns den
Anschein, als achteten und verehrten wir die Reliquien des römischen Papst¬
thums, obwohl wir Alle im Innersten überzeugt sind, daß Pius IX., wenn
nicht der letzte der Päpste, doch wenigstens der letzte sein wird, der viel von
sich reden macht; es müßte denn nach ihm ein reformatorischer Papst auf¬
stehen (aber auf welchen der jetzigen Kardinäle läßt sich eine ähnliche Hoff¬
nung setzen?).

Aber wenn ein solcher Papst erstünde, würde die sogenannte katholische
Religion aufhören und in eine neue, religiöse Phase eintreten. Zu dieser
müßten all die Gläubigen und die guten Italiener schwören, die sich leicht
mit der Religion wieder aussöhnen werden, wenn diese wieder die erleuchtete
Trägerin von Moralität und Civilisation geworden ist, unterdessen ist sie jetzt
nur ein verächtliches Werkzeug der Reaktion, um uns in eine Vergangenheit
der Knechtschaft und Barbarei zurückzuführen und das Köstlichste zu unter¬
drücken, das der Mensch besitzt, seine Vernunft und sein Gewissen.

Ein einsichtiger Augenzeuge des letzten vaticanischen Concils endigt, nach¬
dem er Tag für Tag seine Beobachtungen aufgeschrieben, mit der Hoffnung
auf eine Aussöhnung der Kirche mit dem Staate oder mit der bürgerlichen
Gesellschaft in Italien. Er schreibt: „Uns steht nicht zu, in dem, was die
Kirche betrifft, zu entscheiden, bis zu welchem Punkt und in welcher Weise
die Veränderungen, welche schon durch die Existenz der katholischen Gesellschaft
verlangt werden, sich im Bereich der Gesetze vollziehen können und sollen,
wie es uns nicht zusteht dem bestimmten und unaufhaltsamen Fortschritt der
menschlichen Gesellschaft die Bahn und die Grenzen zu bezeichnen. Die Eine
wie die Andere haben beständig ein furchtbares Feld für jedes gute Wirken,
das jeder wohlthätigen Vereinigung günstig ist, wo sich ihre Thätigkeit, ihr
Evangelium, ihre Freiheit entfalten können. Dem Ersten kann sich jedes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/333>, abgerufen am 26.06.2024.