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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Bei gewissen Pflanzen bemerkt man im Augenblicke des Blühens, das
heißt der Befruchtung, eine ganz eigenthümliche Lebensthätigkeit, ein An¬
schwellen und strotzen der Gewebe. Besonders fällt diese Erscheinung bei den
verschiedenen Arten der Familie der Aroideen ins Auge. Steckt man in dieser
Epoche ein Thermometer in die weite Blüthenhülse der Arums (vom Volke
Aaronswurzel oder wilder Ingwer genannt), so zeigt derselbe einen bis zwei
Grade Wärme mehr als die Luft, welche die Pflanze umgiebt, -- ein sehr
merkwürdiger und außerordentlicher Umstand, da die Gewächse gewöhnlich kälter
als die sie umschließende Luft sind. Wie sollte man da glauben, daß eine
Pflanze, die der Sitz eines solchen Phänomens ist, gar keine Empfindung
dieses Zustandes hätte? Die Pflanze hat wie das Thier ihre Zeit der
Liebestriebe, und man will, daß sie davon keinerlei Bewußtsein habe? Man
will, daß diese Pflanze, die warm wird, in welcher sich das Leben stärker
regt, wenn sie in die Zeit der Befruchtung eintritt, im Innern ihres Wesens
nichts empfinde? Man meint, sie habe nicht mehr Gefühl als der Stein
neben ihr? Das ist unsere Meinung nicht. Wir begreifen das Leben ohne
Empfindungsvermögen nicht, das Eine scheint uns das Anzeichen des Andern
zu sein.

Die Aehnlichkeit, die in Betreff der Functionen der Zeugung zwischen
Thier und Pflanze herrscht, springt nirgends so sehr in die Augen als bei
einer Pflanze, die in den Gewässern der Rhone in großer Menge angetroffen
wird. Wir meinen die Ballisneria spiralis. Dieses Wassergewächs ist dioisch,
das heißt, die männlichen und die weiblichen Organe befinden sich auf ver¬
schiedenen Zweigen einer und derselben Pflanze. Nun aber sind die weiblichen
Blüthen vermittelst langer Stiele an den Boden gefesselt, die sich in Spiralen
um sich selbst winden. In der Zeit der Liebe rollen sich die Spiralen
des weiblichen Stieles auf, und die Blumen breiten sich auf dem Wasser aus.
Aber die männlichen Blüthen, die nicht wie die weiblichen von einem dehn¬
baren Stiele getragen werden, können nicht dazu gelangen, sich auf die Ober¬
fläche des Wassers zu erheben. Was thun sie nun? Sie brechen aus ihrer
Umhüllung heraus und schwimmen um die weiblichen Blüthen herum. Nach¬
dem auf diese Weise die Befruchtung stattgefunden hat, führt die Strömung
des Flusses die abgerissenen Blumen männlicher Gattung hinweg, der weibliche
Stiel aber zieht sich wieder zusammen und sinkt wieder auf den Grund des
Wassers hinab, um hier seine befruchteten Eichen reif werden zu lassen.

Lassen wir die Function der Zeugung bei den Pflanzen noch nicht fallen;
denn sie ist reich an Schlüssen zur Unterstützung unsrer Behauptung. Die
Phanerogamen pflanzen sich nicht allein durch Befruchtung vermittelst sicht¬
barer Geschlechtsglieder fort, nicht allein durch Staubfäden und Stempel; sie
vervielfältigen sich auch durch Pfropfung. durch Stecklinge und durch Schoß-


Bei gewissen Pflanzen bemerkt man im Augenblicke des Blühens, das
heißt der Befruchtung, eine ganz eigenthümliche Lebensthätigkeit, ein An¬
schwellen und strotzen der Gewebe. Besonders fällt diese Erscheinung bei den
verschiedenen Arten der Familie der Aroideen ins Auge. Steckt man in dieser
Epoche ein Thermometer in die weite Blüthenhülse der Arums (vom Volke
Aaronswurzel oder wilder Ingwer genannt), so zeigt derselbe einen bis zwei
Grade Wärme mehr als die Luft, welche die Pflanze umgiebt, — ein sehr
merkwürdiger und außerordentlicher Umstand, da die Gewächse gewöhnlich kälter
als die sie umschließende Luft sind. Wie sollte man da glauben, daß eine
Pflanze, die der Sitz eines solchen Phänomens ist, gar keine Empfindung
dieses Zustandes hätte? Die Pflanze hat wie das Thier ihre Zeit der
Liebestriebe, und man will, daß sie davon keinerlei Bewußtsein habe? Man
will, daß diese Pflanze, die warm wird, in welcher sich das Leben stärker
regt, wenn sie in die Zeit der Befruchtung eintritt, im Innern ihres Wesens
nichts empfinde? Man meint, sie habe nicht mehr Gefühl als der Stein
neben ihr? Das ist unsere Meinung nicht. Wir begreifen das Leben ohne
Empfindungsvermögen nicht, das Eine scheint uns das Anzeichen des Andern
zu sein.

Die Aehnlichkeit, die in Betreff der Functionen der Zeugung zwischen
Thier und Pflanze herrscht, springt nirgends so sehr in die Augen als bei
einer Pflanze, die in den Gewässern der Rhone in großer Menge angetroffen
wird. Wir meinen die Ballisneria spiralis. Dieses Wassergewächs ist dioisch,
das heißt, die männlichen und die weiblichen Organe befinden sich auf ver¬
schiedenen Zweigen einer und derselben Pflanze. Nun aber sind die weiblichen
Blüthen vermittelst langer Stiele an den Boden gefesselt, die sich in Spiralen
um sich selbst winden. In der Zeit der Liebe rollen sich die Spiralen
des weiblichen Stieles auf, und die Blumen breiten sich auf dem Wasser aus.
Aber die männlichen Blüthen, die nicht wie die weiblichen von einem dehn¬
baren Stiele getragen werden, können nicht dazu gelangen, sich auf die Ober¬
fläche des Wassers zu erheben. Was thun sie nun? Sie brechen aus ihrer
Umhüllung heraus und schwimmen um die weiblichen Blüthen herum. Nach¬
dem auf diese Weise die Befruchtung stattgefunden hat, führt die Strömung
des Flusses die abgerissenen Blumen männlicher Gattung hinweg, der weibliche
Stiel aber zieht sich wieder zusammen und sinkt wieder auf den Grund des
Wassers hinab, um hier seine befruchteten Eichen reif werden zu lassen.

Lassen wir die Function der Zeugung bei den Pflanzen noch nicht fallen;
denn sie ist reich an Schlüssen zur Unterstützung unsrer Behauptung. Die
Phanerogamen pflanzen sich nicht allein durch Befruchtung vermittelst sicht¬
barer Geschlechtsglieder fort, nicht allein durch Staubfäden und Stempel; sie
vervielfältigen sich auch durch Pfropfung. durch Stecklinge und durch Schoß-


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[0295] Bei gewissen Pflanzen bemerkt man im Augenblicke des Blühens, das heißt der Befruchtung, eine ganz eigenthümliche Lebensthätigkeit, ein An¬ schwellen und strotzen der Gewebe. Besonders fällt diese Erscheinung bei den verschiedenen Arten der Familie der Aroideen ins Auge. Steckt man in dieser Epoche ein Thermometer in die weite Blüthenhülse der Arums (vom Volke Aaronswurzel oder wilder Ingwer genannt), so zeigt derselbe einen bis zwei Grade Wärme mehr als die Luft, welche die Pflanze umgiebt, — ein sehr merkwürdiger und außerordentlicher Umstand, da die Gewächse gewöhnlich kälter als die sie umschließende Luft sind. Wie sollte man da glauben, daß eine Pflanze, die der Sitz eines solchen Phänomens ist, gar keine Empfindung dieses Zustandes hätte? Die Pflanze hat wie das Thier ihre Zeit der Liebestriebe, und man will, daß sie davon keinerlei Bewußtsein habe? Man will, daß diese Pflanze, die warm wird, in welcher sich das Leben stärker regt, wenn sie in die Zeit der Befruchtung eintritt, im Innern ihres Wesens nichts empfinde? Man meint, sie habe nicht mehr Gefühl als der Stein neben ihr? Das ist unsere Meinung nicht. Wir begreifen das Leben ohne Empfindungsvermögen nicht, das Eine scheint uns das Anzeichen des Andern zu sein. Die Aehnlichkeit, die in Betreff der Functionen der Zeugung zwischen Thier und Pflanze herrscht, springt nirgends so sehr in die Augen als bei einer Pflanze, die in den Gewässern der Rhone in großer Menge angetroffen wird. Wir meinen die Ballisneria spiralis. Dieses Wassergewächs ist dioisch, das heißt, die männlichen und die weiblichen Organe befinden sich auf ver¬ schiedenen Zweigen einer und derselben Pflanze. Nun aber sind die weiblichen Blüthen vermittelst langer Stiele an den Boden gefesselt, die sich in Spiralen um sich selbst winden. In der Zeit der Liebe rollen sich die Spiralen des weiblichen Stieles auf, und die Blumen breiten sich auf dem Wasser aus. Aber die männlichen Blüthen, die nicht wie die weiblichen von einem dehn¬ baren Stiele getragen werden, können nicht dazu gelangen, sich auf die Ober¬ fläche des Wassers zu erheben. Was thun sie nun? Sie brechen aus ihrer Umhüllung heraus und schwimmen um die weiblichen Blüthen herum. Nach¬ dem auf diese Weise die Befruchtung stattgefunden hat, führt die Strömung des Flusses die abgerissenen Blumen männlicher Gattung hinweg, der weibliche Stiel aber zieht sich wieder zusammen und sinkt wieder auf den Grund des Wassers hinab, um hier seine befruchteten Eichen reif werden zu lassen. Lassen wir die Function der Zeugung bei den Pflanzen noch nicht fallen; denn sie ist reich an Schlüssen zur Unterstützung unsrer Behauptung. Die Phanerogamen pflanzen sich nicht allein durch Befruchtung vermittelst sicht¬ barer Geschlechtsglieder fort, nicht allein durch Staubfäden und Stempel; sie vervielfältigen sich auch durch Pfropfung. durch Stecklinge und durch Schoß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/295>, abgerufen am 26.06.2024.