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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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genau, ob der Baum gleich dem Menschen und dem Thiere von innen nach
außen oder von außen nach innen wächst. Alle physiologischen Funktionen
im Pflanzenreiche sind für uns mit einem dichten Schleier bedeckt, (alle --
das ist nicht möglich ; denn der Verfasser beschrieb uns ja eine Anzahl derselben
und fand sie denen bei den Thieren ähnlich) und nur dadurch, daß wir diesen
Schleier an ein paar Ecken lüfteten, haben wir einige Aufklärung über die
dunkle Natur dieser Vorgänge erhalten.

Dennoch existiren die physiologischen Functionen bei den Pflanzen, wie
sehr sie auch in Finsterniß gehüllt sein mögen, und Angesichts der großen
Zahl dieser Functionen erscheint es uns als ein Unmöglichkeit, wenn man
denselben das Gefühlsvermögen absprechen will. Sie können unmöglich, wie
Linne wollte, nur Leben und nicht auch Empfindung haben."

Der Verfasser verkennt nicht, daß man ihm einwerfen kann, die Pflanzen
hätten keine Nerven, und nur durch Nerven fände Empfindung statt. Er
findet sich aber über diesen Einwand getröstet, indem er sich sagt, daß man
bei der UnVollkommenheit der Anatomie und Physiologie der Pflanzen nicht
wissen könne, ob dieselben Nerven oder andere Empfindungsorgane besitzen
oder nicht. Er ist überzeugt, daß sie solche Organe haben, und daß die
Botaniker dieselben nur noch nicht von andern Organen zu unterscheiden
wissen. Dann fährt er fort:

"Die Art und Weise, wie die Pflanzen sich vervielfältigen und neue,
Individuen ihrer Gattung erzeugen ist eine der bei den Thieren zu beobachtenden
so analoge, daß es Angesichts dieser außerordentlichen Aehnlichkeit in der wich¬
tigsten aller Lebensfunctionen schlechterdings undenkbar erscheint, daß die
Pflanzen nicht auch wie die Thiere mit Empfindung begabt sind.

Betrachten wir in der That die verschiedenen Arten der Fortpflanzung,
die den Gewächsen eigen sind. Die Wiedererzeugung oder vielmehr die Be-
fruchtung, die ihr vorausgeht, vollzieht sich bei den Pflanzen, die man Phanero-
gamen nennt, mittelst Werkzeugen, welche dieselbe typische Form wie im
Thierreiche haben. Das heißt, diese Werkzeuge bestehen aus einem männlichen
Organ, dem Stempel, der mit dem Fruchtknoten in Verbindung steht. Der
Samenstaub befruchtet das im Fruchtknoten befindliche Eichen ganz ebenso,
wie der Samen des Männchens beim Thiere das im Eierstock des Weibchens
enthaltene Eichen befruchtet. Die eine wie die andere Folge der Befruchtung
entwickelt sich dann mit Hülfe der Wärme in bestimmter Zeit. Das vegeta¬
bilische El wächst und reift völlig in derselben Weise wie das animalische.

Fügen wir hinzu, daß die Analogie zwischen den beiden Arten der Zeugung
und Fortpflanzung in den genannten beiden Naturreichen sich nicht auf diese
allgemeinen Verhältnisse beschränkt, sondern sich auch in vielen Einzelheiten
der Function aufweisen läßt.


genau, ob der Baum gleich dem Menschen und dem Thiere von innen nach
außen oder von außen nach innen wächst. Alle physiologischen Funktionen
im Pflanzenreiche sind für uns mit einem dichten Schleier bedeckt, (alle —
das ist nicht möglich ; denn der Verfasser beschrieb uns ja eine Anzahl derselben
und fand sie denen bei den Thieren ähnlich) und nur dadurch, daß wir diesen
Schleier an ein paar Ecken lüfteten, haben wir einige Aufklärung über die
dunkle Natur dieser Vorgänge erhalten.

Dennoch existiren die physiologischen Functionen bei den Pflanzen, wie
sehr sie auch in Finsterniß gehüllt sein mögen, und Angesichts der großen
Zahl dieser Functionen erscheint es uns als ein Unmöglichkeit, wenn man
denselben das Gefühlsvermögen absprechen will. Sie können unmöglich, wie
Linne wollte, nur Leben und nicht auch Empfindung haben."

Der Verfasser verkennt nicht, daß man ihm einwerfen kann, die Pflanzen
hätten keine Nerven, und nur durch Nerven fände Empfindung statt. Er
findet sich aber über diesen Einwand getröstet, indem er sich sagt, daß man
bei der UnVollkommenheit der Anatomie und Physiologie der Pflanzen nicht
wissen könne, ob dieselben Nerven oder andere Empfindungsorgane besitzen
oder nicht. Er ist überzeugt, daß sie solche Organe haben, und daß die
Botaniker dieselben nur noch nicht von andern Organen zu unterscheiden
wissen. Dann fährt er fort:

„Die Art und Weise, wie die Pflanzen sich vervielfältigen und neue,
Individuen ihrer Gattung erzeugen ist eine der bei den Thieren zu beobachtenden
so analoge, daß es Angesichts dieser außerordentlichen Aehnlichkeit in der wich¬
tigsten aller Lebensfunctionen schlechterdings undenkbar erscheint, daß die
Pflanzen nicht auch wie die Thiere mit Empfindung begabt sind.

Betrachten wir in der That die verschiedenen Arten der Fortpflanzung,
die den Gewächsen eigen sind. Die Wiedererzeugung oder vielmehr die Be-
fruchtung, die ihr vorausgeht, vollzieht sich bei den Pflanzen, die man Phanero-
gamen nennt, mittelst Werkzeugen, welche dieselbe typische Form wie im
Thierreiche haben. Das heißt, diese Werkzeuge bestehen aus einem männlichen
Organ, dem Stempel, der mit dem Fruchtknoten in Verbindung steht. Der
Samenstaub befruchtet das im Fruchtknoten befindliche Eichen ganz ebenso,
wie der Samen des Männchens beim Thiere das im Eierstock des Weibchens
enthaltene Eichen befruchtet. Die eine wie die andere Folge der Befruchtung
entwickelt sich dann mit Hülfe der Wärme in bestimmter Zeit. Das vegeta¬
bilische El wächst und reift völlig in derselben Weise wie das animalische.

Fügen wir hinzu, daß die Analogie zwischen den beiden Arten der Zeugung
und Fortpflanzung in den genannten beiden Naturreichen sich nicht auf diese
allgemeinen Verhältnisse beschränkt, sondern sich auch in vielen Einzelheiten
der Function aufweisen läßt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/294>, abgerufen am 26.06.2024.