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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Die obenerwähnte Sinnpflanze ist dasjenige Gewächs, bei welchem dieses
Phänomen am stärksten und deutlichsten hervortritt. Aber diese kleine Legu¬
minose ist keineswegs eine Ausnahme von der Regel, sie zeigt vielmehr nur
in besonders starkem Grade eine Eigenschaft, welche alle Begetabilien besitzen,
die mit Luftblättern ausgestattet sind.

Der Schlaf der Pflanzen erinnert in gewissem Maße an den Schlaf der
Thiere. Das eingeschlafene Blatt scheint sich durch sein Aussehen der Epoche
seiner frühesten Kindheit zu nähern, wie das eingeschlafene Thier dem Zustande
des Embryos. Wie dieses sich zusammenkrümmt, sich gleichsam faltet, so
wickelt sich auch jenes durch Umbiegen fast zu der Gestalt zusammen, die es
in der Knospe hatte, als es den lethargischen Winterschlaf schlief.

Kann man nun, so fragt der Verfasser unseres Buches, Wesen, welche
uns abwechselnd Zeichen der Ruhe und der Thätigkeit geben, welche den
verschiedenen Eindrücken der Außenwelt sich anzupassen verstehen, das Empfin¬
dungsvermögen absprechen? Die Ermüdung ist doch offenbar nur die Folge
eines empfangenen Eindrucks.

Aber weiter. Zahlreiche physiologische Functionen vollziehen sich in den
Pflanzen ganz ebenso wie bei den Thieren, und wenn man die Zahl und die
Mannichfaltigkeit dieser Functionen sieht, so hat man Mühe zu begreifen,
warum nach aller Welt Meinung die Thiere Empfindungsvermögen besitzen,
de^e Pflanzen dagegen nicht damit begabt sein sollen. Ein Philosoph des
Alterthums hat die letzteren "festgewurzelte Thiere" genannt. Herr Figuier
findet, indem er die Functionen, die sich im Schooße der Vegetabilien voll¬
ziehen, aufzählt und untersucht, daß dieser alte Weise richtig gesehen und mit
jener Bezeichnung ein wahres Wort ausgesprochen hat. Er sagt: "Man
würde Mühe haben, eine dem Thiere eigenthümliche Function zu entdecken,
die nicht zu gleicher Zeit, wenn auch in mehr oder minder schwächerem Grade,
mehr oder minder deutlich erkennbar bei der Pflanze vorkäme.

Das Athmen zum Beispiel ist ebenso wohl eine Verrichtung der Pflanzen
als der Thiere. Bei den letzteren besteht dieser Proceß im Einziehen des
Sauerstoffes der Luft und in der Ausstoßung von kohlensaurem Gas und
Wasserdunst, bei den Pflanzen während der Nacht in der Ausstoßung von
kohlensaurem Gas und Wasserdunst und während des Tages, unter dem Ein¬
flüsse des Sonnenlichtes, in dem Entweichenlassen von Sauerstoff, der sich aus
der Zersetzung der Kohlensäure entwickelt. Die Function ist in beiden Reichen
der Natur augenscheinlich von ähnlicher Beschaffenheit.

Ferner ist die Ausdünstung eine den Pflanzen wie den Thieren gemein¬
same Verrichtung. Durch die Spaltöffnungen der Blätter wie durch die Poren
in der Haut der Thiere entweichen fortwährend Wasserdunst und verschiedene
Gase, je nach den Vorgängen des Lebens, die im Innern der Gewebe statt-


Die obenerwähnte Sinnpflanze ist dasjenige Gewächs, bei welchem dieses
Phänomen am stärksten und deutlichsten hervortritt. Aber diese kleine Legu¬
minose ist keineswegs eine Ausnahme von der Regel, sie zeigt vielmehr nur
in besonders starkem Grade eine Eigenschaft, welche alle Begetabilien besitzen,
die mit Luftblättern ausgestattet sind.

Der Schlaf der Pflanzen erinnert in gewissem Maße an den Schlaf der
Thiere. Das eingeschlafene Blatt scheint sich durch sein Aussehen der Epoche
seiner frühesten Kindheit zu nähern, wie das eingeschlafene Thier dem Zustande
des Embryos. Wie dieses sich zusammenkrümmt, sich gleichsam faltet, so
wickelt sich auch jenes durch Umbiegen fast zu der Gestalt zusammen, die es
in der Knospe hatte, als es den lethargischen Winterschlaf schlief.

Kann man nun, so fragt der Verfasser unseres Buches, Wesen, welche
uns abwechselnd Zeichen der Ruhe und der Thätigkeit geben, welche den
verschiedenen Eindrücken der Außenwelt sich anzupassen verstehen, das Empfin¬
dungsvermögen absprechen? Die Ermüdung ist doch offenbar nur die Folge
eines empfangenen Eindrucks.

Aber weiter. Zahlreiche physiologische Functionen vollziehen sich in den
Pflanzen ganz ebenso wie bei den Thieren, und wenn man die Zahl und die
Mannichfaltigkeit dieser Functionen sieht, so hat man Mühe zu begreifen,
warum nach aller Welt Meinung die Thiere Empfindungsvermögen besitzen,
de^e Pflanzen dagegen nicht damit begabt sein sollen. Ein Philosoph des
Alterthums hat die letzteren „festgewurzelte Thiere" genannt. Herr Figuier
findet, indem er die Functionen, die sich im Schooße der Vegetabilien voll¬
ziehen, aufzählt und untersucht, daß dieser alte Weise richtig gesehen und mit
jener Bezeichnung ein wahres Wort ausgesprochen hat. Er sagt: „Man
würde Mühe haben, eine dem Thiere eigenthümliche Function zu entdecken,
die nicht zu gleicher Zeit, wenn auch in mehr oder minder schwächerem Grade,
mehr oder minder deutlich erkennbar bei der Pflanze vorkäme.

Das Athmen zum Beispiel ist ebenso wohl eine Verrichtung der Pflanzen
als der Thiere. Bei den letzteren besteht dieser Proceß im Einziehen des
Sauerstoffes der Luft und in der Ausstoßung von kohlensaurem Gas und
Wasserdunst, bei den Pflanzen während der Nacht in der Ausstoßung von
kohlensaurem Gas und Wasserdunst und während des Tages, unter dem Ein¬
flüsse des Sonnenlichtes, in dem Entweichenlassen von Sauerstoff, der sich aus
der Zersetzung der Kohlensäure entwickelt. Die Function ist in beiden Reichen
der Natur augenscheinlich von ähnlicher Beschaffenheit.

Ferner ist die Ausdünstung eine den Pflanzen wie den Thieren gemein¬
same Verrichtung. Durch die Spaltöffnungen der Blätter wie durch die Poren
in der Haut der Thiere entweichen fortwährend Wasserdunst und verschiedene
Gase, je nach den Vorgängen des Lebens, die im Innern der Gewebe statt-


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[0292] Die obenerwähnte Sinnpflanze ist dasjenige Gewächs, bei welchem dieses Phänomen am stärksten und deutlichsten hervortritt. Aber diese kleine Legu¬ minose ist keineswegs eine Ausnahme von der Regel, sie zeigt vielmehr nur in besonders starkem Grade eine Eigenschaft, welche alle Begetabilien besitzen, die mit Luftblättern ausgestattet sind. Der Schlaf der Pflanzen erinnert in gewissem Maße an den Schlaf der Thiere. Das eingeschlafene Blatt scheint sich durch sein Aussehen der Epoche seiner frühesten Kindheit zu nähern, wie das eingeschlafene Thier dem Zustande des Embryos. Wie dieses sich zusammenkrümmt, sich gleichsam faltet, so wickelt sich auch jenes durch Umbiegen fast zu der Gestalt zusammen, die es in der Knospe hatte, als es den lethargischen Winterschlaf schlief. Kann man nun, so fragt der Verfasser unseres Buches, Wesen, welche uns abwechselnd Zeichen der Ruhe und der Thätigkeit geben, welche den verschiedenen Eindrücken der Außenwelt sich anzupassen verstehen, das Empfin¬ dungsvermögen absprechen? Die Ermüdung ist doch offenbar nur die Folge eines empfangenen Eindrucks. Aber weiter. Zahlreiche physiologische Functionen vollziehen sich in den Pflanzen ganz ebenso wie bei den Thieren, und wenn man die Zahl und die Mannichfaltigkeit dieser Functionen sieht, so hat man Mühe zu begreifen, warum nach aller Welt Meinung die Thiere Empfindungsvermögen besitzen, de^e Pflanzen dagegen nicht damit begabt sein sollen. Ein Philosoph des Alterthums hat die letzteren „festgewurzelte Thiere" genannt. Herr Figuier findet, indem er die Functionen, die sich im Schooße der Vegetabilien voll¬ ziehen, aufzählt und untersucht, daß dieser alte Weise richtig gesehen und mit jener Bezeichnung ein wahres Wort ausgesprochen hat. Er sagt: „Man würde Mühe haben, eine dem Thiere eigenthümliche Function zu entdecken, die nicht zu gleicher Zeit, wenn auch in mehr oder minder schwächerem Grade, mehr oder minder deutlich erkennbar bei der Pflanze vorkäme. Das Athmen zum Beispiel ist ebenso wohl eine Verrichtung der Pflanzen als der Thiere. Bei den letzteren besteht dieser Proceß im Einziehen des Sauerstoffes der Luft und in der Ausstoßung von kohlensaurem Gas und Wasserdunst, bei den Pflanzen während der Nacht in der Ausstoßung von kohlensaurem Gas und Wasserdunst und während des Tages, unter dem Ein¬ flüsse des Sonnenlichtes, in dem Entweichenlassen von Sauerstoff, der sich aus der Zersetzung der Kohlensäure entwickelt. Die Function ist in beiden Reichen der Natur augenscheinlich von ähnlicher Beschaffenheit. Ferner ist die Ausdünstung eine den Pflanzen wie den Thieren gemein¬ same Verrichtung. Durch die Spaltöffnungen der Blätter wie durch die Poren in der Haut der Thiere entweichen fortwährend Wasserdunst und verschiedene Gase, je nach den Vorgängen des Lebens, die im Innern der Gewebe statt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/292>, abgerufen am 26.06.2024.