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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Auszuge das Kapitel des Buches folgen, in welchem der Verfasser auseinander¬
setzt, wie er sich das Wesen der vegetabilischen Geschöpfe und deren Stellung
in der Welt, namentlich zur niedern Thierwelt vorstellt.

Was ist die Pflanze? fragt Herr Figuier. Linne hat gesagt: "Die
Pflanze lebt, das Thier lebt und empfindet, der Mensch lebt, empfindet und
denkt." Dieser Satz entspricht der seit dem Tode des großen Botanikers von
Upsala bedeutend fortgeschrittnen und an Ersahrungen reicher gewordnen
Botanik nicht mehr, und ebenso wenig vermag ihn die inzwischen gleichfalls
durch tiefgreifende Entdeckungen vervollkommnete Zoologie noch zu unter¬
schreiben. Ich (Herr Figuier nämlich spricht) glaube ihm folgende Ansicht
substituiren zu dürfen: "Die Pflanze lebt und empfindet, das Thier und
der Mensch leben, empfinden und denken."

Den Pflanzen ein Empfindungsvermögen zuzuschreiben, heißt, sich von
den herkömmlichen Regeln der Naturwissenschaft entfernen. So hält sich der
Aussteller dieser Behauptung für verpflichtet, sorgfältig die Betrachtungen und
Thatsachen auseinanderzusetzen, die ihm seine Meinung zu stützen und zu
rechtfertigen scheinen. Ich werde dazu gelegentlich eine und die andere Be¬
merkung machen, ohne damit dem Leser für die Fälle, wo dies bei gewagten
Schlüssen unterbleibt, die Befugniß zu der Annahme einzuräumen, ich sei mit
dem Verfasser völlig einverstanden.

Die Pflanze hat nach Herrn Figuier die Empfindung des Vergnügens
und des Schmerzes. Die Kälte zum Beispiel macht einen unangenehmen
Eindruck auf sie. Man sieht, wie sie bei plötzlichem ader sehr starkem Sinken
der Temperatur sich zusammenzieht und, so zu sagen, fröstelt. ("So zu sagen"
bedeutet, als ein Bild, ein Gleichniß einschließend, in den exacten Wissen¬
schaften, mit denen wir hier zu thun haben, nichts.) Ebenso läßt eine zu
starke Erhöhung der Temperatur die Pflanze leiden; denn bei vielen Gewächsen
sehen wir, wenn es zu heiß wird, die Blätter an den Zweigen herabhängen,
sich runzeln und welk werden und, wenn die Frische des Abends eintritt, sich
wieder aufrichten und glätten, sodaß die Pflanze wieder eine heitere Miene
und Haltung einnimmt. (Das ist poetisch gefühlt. Aber läßt sich jenes
welke Herabhängen und dieses betrübte Sich-Runzeln der Blätter nicht auf
mechanischem Wege, dadurch nämlich erklären, daß die Hitze der Pflanze
Feuchtigkeit entzieht und durch diese Entleerung Halt und Spannung ihres
Gewebes aufhören läßt?) Die Dürre verursacht den Gewächsen offenbar
Schmerz. Wer mit zartsinnigen Auge in dem rührenden Buche der Natur
liest, wird gewahr werden, daß die nach langer Trockenheit begossene Pflanze
Zeichen von Vergnügen giebt. Dagegen scheint eine verwundete Pflanze, ein
Baum, dem man einen Ast abgenommen oder einen Zweig abgerissen hat,
Schmerz zu empfinden. Eine pathologische Flüssigkeit dringt aus der Ver-


Auszuge das Kapitel des Buches folgen, in welchem der Verfasser auseinander¬
setzt, wie er sich das Wesen der vegetabilischen Geschöpfe und deren Stellung
in der Welt, namentlich zur niedern Thierwelt vorstellt.

Was ist die Pflanze? fragt Herr Figuier. Linne hat gesagt: „Die
Pflanze lebt, das Thier lebt und empfindet, der Mensch lebt, empfindet und
denkt." Dieser Satz entspricht der seit dem Tode des großen Botanikers von
Upsala bedeutend fortgeschrittnen und an Ersahrungen reicher gewordnen
Botanik nicht mehr, und ebenso wenig vermag ihn die inzwischen gleichfalls
durch tiefgreifende Entdeckungen vervollkommnete Zoologie noch zu unter¬
schreiben. Ich (Herr Figuier nämlich spricht) glaube ihm folgende Ansicht
substituiren zu dürfen: „Die Pflanze lebt und empfindet, das Thier und
der Mensch leben, empfinden und denken."

Den Pflanzen ein Empfindungsvermögen zuzuschreiben, heißt, sich von
den herkömmlichen Regeln der Naturwissenschaft entfernen. So hält sich der
Aussteller dieser Behauptung für verpflichtet, sorgfältig die Betrachtungen und
Thatsachen auseinanderzusetzen, die ihm seine Meinung zu stützen und zu
rechtfertigen scheinen. Ich werde dazu gelegentlich eine und die andere Be¬
merkung machen, ohne damit dem Leser für die Fälle, wo dies bei gewagten
Schlüssen unterbleibt, die Befugniß zu der Annahme einzuräumen, ich sei mit
dem Verfasser völlig einverstanden.

Die Pflanze hat nach Herrn Figuier die Empfindung des Vergnügens
und des Schmerzes. Die Kälte zum Beispiel macht einen unangenehmen
Eindruck auf sie. Man sieht, wie sie bei plötzlichem ader sehr starkem Sinken
der Temperatur sich zusammenzieht und, so zu sagen, fröstelt. („So zu sagen"
bedeutet, als ein Bild, ein Gleichniß einschließend, in den exacten Wissen¬
schaften, mit denen wir hier zu thun haben, nichts.) Ebenso läßt eine zu
starke Erhöhung der Temperatur die Pflanze leiden; denn bei vielen Gewächsen
sehen wir, wenn es zu heiß wird, die Blätter an den Zweigen herabhängen,
sich runzeln und welk werden und, wenn die Frische des Abends eintritt, sich
wieder aufrichten und glätten, sodaß die Pflanze wieder eine heitere Miene
und Haltung einnimmt. (Das ist poetisch gefühlt. Aber läßt sich jenes
welke Herabhängen und dieses betrübte Sich-Runzeln der Blätter nicht auf
mechanischem Wege, dadurch nämlich erklären, daß die Hitze der Pflanze
Feuchtigkeit entzieht und durch diese Entleerung Halt und Spannung ihres
Gewebes aufhören läßt?) Die Dürre verursacht den Gewächsen offenbar
Schmerz. Wer mit zartsinnigen Auge in dem rührenden Buche der Natur
liest, wird gewahr werden, daß die nach langer Trockenheit begossene Pflanze
Zeichen von Vergnügen giebt. Dagegen scheint eine verwundete Pflanze, ein
Baum, dem man einen Ast abgenommen oder einen Zweig abgerissen hat,
Schmerz zu empfinden. Eine pathologische Flüssigkeit dringt aus der Ver-


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[0290] Auszuge das Kapitel des Buches folgen, in welchem der Verfasser auseinander¬ setzt, wie er sich das Wesen der vegetabilischen Geschöpfe und deren Stellung in der Welt, namentlich zur niedern Thierwelt vorstellt. Was ist die Pflanze? fragt Herr Figuier. Linne hat gesagt: „Die Pflanze lebt, das Thier lebt und empfindet, der Mensch lebt, empfindet und denkt." Dieser Satz entspricht der seit dem Tode des großen Botanikers von Upsala bedeutend fortgeschrittnen und an Ersahrungen reicher gewordnen Botanik nicht mehr, und ebenso wenig vermag ihn die inzwischen gleichfalls durch tiefgreifende Entdeckungen vervollkommnete Zoologie noch zu unter¬ schreiben. Ich (Herr Figuier nämlich spricht) glaube ihm folgende Ansicht substituiren zu dürfen: „Die Pflanze lebt und empfindet, das Thier und der Mensch leben, empfinden und denken." Den Pflanzen ein Empfindungsvermögen zuzuschreiben, heißt, sich von den herkömmlichen Regeln der Naturwissenschaft entfernen. So hält sich der Aussteller dieser Behauptung für verpflichtet, sorgfältig die Betrachtungen und Thatsachen auseinanderzusetzen, die ihm seine Meinung zu stützen und zu rechtfertigen scheinen. Ich werde dazu gelegentlich eine und die andere Be¬ merkung machen, ohne damit dem Leser für die Fälle, wo dies bei gewagten Schlüssen unterbleibt, die Befugniß zu der Annahme einzuräumen, ich sei mit dem Verfasser völlig einverstanden. Die Pflanze hat nach Herrn Figuier die Empfindung des Vergnügens und des Schmerzes. Die Kälte zum Beispiel macht einen unangenehmen Eindruck auf sie. Man sieht, wie sie bei plötzlichem ader sehr starkem Sinken der Temperatur sich zusammenzieht und, so zu sagen, fröstelt. („So zu sagen" bedeutet, als ein Bild, ein Gleichniß einschließend, in den exacten Wissen¬ schaften, mit denen wir hier zu thun haben, nichts.) Ebenso läßt eine zu starke Erhöhung der Temperatur die Pflanze leiden; denn bei vielen Gewächsen sehen wir, wenn es zu heiß wird, die Blätter an den Zweigen herabhängen, sich runzeln und welk werden und, wenn die Frische des Abends eintritt, sich wieder aufrichten und glätten, sodaß die Pflanze wieder eine heitere Miene und Haltung einnimmt. (Das ist poetisch gefühlt. Aber läßt sich jenes welke Herabhängen und dieses betrübte Sich-Runzeln der Blätter nicht auf mechanischem Wege, dadurch nämlich erklären, daß die Hitze der Pflanze Feuchtigkeit entzieht und durch diese Entleerung Halt und Spannung ihres Gewebes aufhören läßt?) Die Dürre verursacht den Gewächsen offenbar Schmerz. Wer mit zartsinnigen Auge in dem rührenden Buche der Natur liest, wird gewahr werden, daß die nach langer Trockenheit begossene Pflanze Zeichen von Vergnügen giebt. Dagegen scheint eine verwundete Pflanze, ein Baum, dem man einen Ast abgenommen oder einen Zweig abgerissen hat, Schmerz zu empfinden. Eine pathologische Flüssigkeit dringt aus der Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/290>, abgerufen am 26.06.2024.