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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Werthern und seine Gemahlin die Vorbilder zum Grafen und zur Gräfin in
"Wilhelm Meisters Lehrjahren" gewesen seien. Durch eine eingehende
Parallele jedoch zwischen der dichterischen "Gräfin" und der historischen
Gräfin Werthern, wie die letztere in Briefen Goethe's an Charlotte von Stein
geschildert wird, weist der Verfasser überzeugend nach, daß scholl die Statuirung
dieser Vorbilder völlig aus der Luft gegriffen hat.

Was im dritten Capitel vereinigt ist, bezieht sich auf Goethe's Verkehr
mit der Dresdner Kunstakademie und einzelnen an ihr Lehrenden und Lernenden,
unter denen namentlich der Maler Kaaz genannt sein möge, ferner auf das
lebhafte Interesse, welches Goethe der Auffindung eines zweckmäßigen Ver¬
fahrens der Gemälderestauration widmete, endlich auf die Theilnahme, die er
in den letzten vier Jahren seines Lebens dem neu gegründeten Sächsischen
Kunstverein zuwandte.

Ohne Zweifel ist die Arbeit des Herrn v. Biedermann eine äußerst müh¬
same gewesen. Dennoch ist das Resultat nicht von der Art, daß man die
weiteren Kreise der Gebildeten zur Lectüre des Buches sonderlich einladen
könnte. Von den Dresdnern allenfalls kann man erwarten, daß sie aus
Localpatriotismus -- wenn es diese Art von Localpatriotismus in Dresden
giebt -- das Buch studiren. Im übrigen ist es mehr für den Literarhistoriker,
um nicht zu sagen für den specifischen Goethomanen bestimmt. Goethe und
Leipzig -- das war ein Stoff, der jeden packen mußte! Da handelte es sich,
im ersten Bande wenigstens, um ein ganzes Stück aus Goethe's Leben, und
um welch ein Stück! Der zweite Band, der die späteren Beziehungen des
Dichters zu Leipzig und seinen spätern Verkehr mit Leipzigern schildert, verlor
bereits an Interesse; der bloße Gesichtspunkt der Oertlichkeit war ein zu äußer¬
licher, als daß er in einer bunten Reihe von Thatsachen und Ereignissen den
nöthigen Zusammenhang hätte herstellen können. Noch lebhafter aber empfindet
man diesen Uebelstand bei der vorliegenden Schrift. Man muß wirklich be¬
wundern, daß der Verfasser aus solchem Stoffe überhaupt ein Buch zu schaffen
im Stande war. Nur indem er jedes, auch das dünnste Fädchen nicht ver¬
schmähte, aus welchem sich ein Faden drehen ließ, der dann allenfalls als
"Beziehung" Goethe's zu dem oder jenem gelten kann, ist es ihm möglich
geworden, aus dem Stoffe zu einem oder zwei Journalartikeln ein ganzes
Buch herauszuspinnen. Wenn freilich der Umstand genügt, daß z. B. Goethe
beiläufig einmal eine Aeußerung gethan hat über irgend ein Bild eines Malers,
der zu irgend einer Zeit, keineswegs gleichzeitig mit Goethe, sondern irgend
einmal vor oder nach ihm, in Dresden geweilt hat, um sofort eine "Beziehung"
Goethe's zu diesem Maler zu constatiren, dann läßt sich schon ein Buch über
"Goethe und Dresden" schreiben. Von dem unermüdlichen Spürsinn des
Verfassers legt natürlich auch dieses Buch wieder rühmliches Zeugniß ab.


Werthern und seine Gemahlin die Vorbilder zum Grafen und zur Gräfin in
„Wilhelm Meisters Lehrjahren" gewesen seien. Durch eine eingehende
Parallele jedoch zwischen der dichterischen „Gräfin" und der historischen
Gräfin Werthern, wie die letztere in Briefen Goethe's an Charlotte von Stein
geschildert wird, weist der Verfasser überzeugend nach, daß scholl die Statuirung
dieser Vorbilder völlig aus der Luft gegriffen hat.

Was im dritten Capitel vereinigt ist, bezieht sich auf Goethe's Verkehr
mit der Dresdner Kunstakademie und einzelnen an ihr Lehrenden und Lernenden,
unter denen namentlich der Maler Kaaz genannt sein möge, ferner auf das
lebhafte Interesse, welches Goethe der Auffindung eines zweckmäßigen Ver¬
fahrens der Gemälderestauration widmete, endlich auf die Theilnahme, die er
in den letzten vier Jahren seines Lebens dem neu gegründeten Sächsischen
Kunstverein zuwandte.

Ohne Zweifel ist die Arbeit des Herrn v. Biedermann eine äußerst müh¬
same gewesen. Dennoch ist das Resultat nicht von der Art, daß man die
weiteren Kreise der Gebildeten zur Lectüre des Buches sonderlich einladen
könnte. Von den Dresdnern allenfalls kann man erwarten, daß sie aus
Localpatriotismus — wenn es diese Art von Localpatriotismus in Dresden
giebt — das Buch studiren. Im übrigen ist es mehr für den Literarhistoriker,
um nicht zu sagen für den specifischen Goethomanen bestimmt. Goethe und
Leipzig — das war ein Stoff, der jeden packen mußte! Da handelte es sich,
im ersten Bande wenigstens, um ein ganzes Stück aus Goethe's Leben, und
um welch ein Stück! Der zweite Band, der die späteren Beziehungen des
Dichters zu Leipzig und seinen spätern Verkehr mit Leipzigern schildert, verlor
bereits an Interesse; der bloße Gesichtspunkt der Oertlichkeit war ein zu äußer¬
licher, als daß er in einer bunten Reihe von Thatsachen und Ereignissen den
nöthigen Zusammenhang hätte herstellen können. Noch lebhafter aber empfindet
man diesen Uebelstand bei der vorliegenden Schrift. Man muß wirklich be¬
wundern, daß der Verfasser aus solchem Stoffe überhaupt ein Buch zu schaffen
im Stande war. Nur indem er jedes, auch das dünnste Fädchen nicht ver¬
schmähte, aus welchem sich ein Faden drehen ließ, der dann allenfalls als
„Beziehung" Goethe's zu dem oder jenem gelten kann, ist es ihm möglich
geworden, aus dem Stoffe zu einem oder zwei Journalartikeln ein ganzes
Buch herauszuspinnen. Wenn freilich der Umstand genügt, daß z. B. Goethe
beiläufig einmal eine Aeußerung gethan hat über irgend ein Bild eines Malers,
der zu irgend einer Zeit, keineswegs gleichzeitig mit Goethe, sondern irgend
einmal vor oder nach ihm, in Dresden geweilt hat, um sofort eine „Beziehung"
Goethe's zu diesem Maler zu constatiren, dann läßt sich schon ein Buch über
„Goethe und Dresden" schreiben. Von dem unermüdlichen Spürsinn des
Verfassers legt natürlich auch dieses Buch wieder rühmliches Zeugniß ab.


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[0285] Werthern und seine Gemahlin die Vorbilder zum Grafen und zur Gräfin in „Wilhelm Meisters Lehrjahren" gewesen seien. Durch eine eingehende Parallele jedoch zwischen der dichterischen „Gräfin" und der historischen Gräfin Werthern, wie die letztere in Briefen Goethe's an Charlotte von Stein geschildert wird, weist der Verfasser überzeugend nach, daß scholl die Statuirung dieser Vorbilder völlig aus der Luft gegriffen hat. Was im dritten Capitel vereinigt ist, bezieht sich auf Goethe's Verkehr mit der Dresdner Kunstakademie und einzelnen an ihr Lehrenden und Lernenden, unter denen namentlich der Maler Kaaz genannt sein möge, ferner auf das lebhafte Interesse, welches Goethe der Auffindung eines zweckmäßigen Ver¬ fahrens der Gemälderestauration widmete, endlich auf die Theilnahme, die er in den letzten vier Jahren seines Lebens dem neu gegründeten Sächsischen Kunstverein zuwandte. Ohne Zweifel ist die Arbeit des Herrn v. Biedermann eine äußerst müh¬ same gewesen. Dennoch ist das Resultat nicht von der Art, daß man die weiteren Kreise der Gebildeten zur Lectüre des Buches sonderlich einladen könnte. Von den Dresdnern allenfalls kann man erwarten, daß sie aus Localpatriotismus — wenn es diese Art von Localpatriotismus in Dresden giebt — das Buch studiren. Im übrigen ist es mehr für den Literarhistoriker, um nicht zu sagen für den specifischen Goethomanen bestimmt. Goethe und Leipzig — das war ein Stoff, der jeden packen mußte! Da handelte es sich, im ersten Bande wenigstens, um ein ganzes Stück aus Goethe's Leben, und um welch ein Stück! Der zweite Band, der die späteren Beziehungen des Dichters zu Leipzig und seinen spätern Verkehr mit Leipzigern schildert, verlor bereits an Interesse; der bloße Gesichtspunkt der Oertlichkeit war ein zu äußer¬ licher, als daß er in einer bunten Reihe von Thatsachen und Ereignissen den nöthigen Zusammenhang hätte herstellen können. Noch lebhafter aber empfindet man diesen Uebelstand bei der vorliegenden Schrift. Man muß wirklich be¬ wundern, daß der Verfasser aus solchem Stoffe überhaupt ein Buch zu schaffen im Stande war. Nur indem er jedes, auch das dünnste Fädchen nicht ver¬ schmähte, aus welchem sich ein Faden drehen ließ, der dann allenfalls als „Beziehung" Goethe's zu dem oder jenem gelten kann, ist es ihm möglich geworden, aus dem Stoffe zu einem oder zwei Journalartikeln ein ganzes Buch herauszuspinnen. Wenn freilich der Umstand genügt, daß z. B. Goethe beiläufig einmal eine Aeußerung gethan hat über irgend ein Bild eines Malers, der zu irgend einer Zeit, keineswegs gleichzeitig mit Goethe, sondern irgend einmal vor oder nach ihm, in Dresden geweilt hat, um sofort eine „Beziehung" Goethe's zu diesem Maler zu constatiren, dann läßt sich schon ein Buch über „Goethe und Dresden" schreiben. Von dem unermüdlichen Spürsinn des Verfassers legt natürlich auch dieses Buch wieder rühmliches Zeugniß ab.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/285>, abgerufen am 26.06.2024.