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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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die ganze christliche Familie in der Gewalt des muhammedanischen Scheichs,
damit er sie nach Gutdünken mit Geld- und strenger Körperstrafe belege.
"Als ich zu Pferde stieg," erzählt Herr Grimes, "bat Jusef mich noch einmal,
dazwischen zu treten und Mitleid mit ihnen zu haben; aber ich blickte die
dunkeln' Gesichter in der Runde an und konnte keinen Tropfen Mitleid mit
ihnen in meinem Herzen finden." Er schließt sein Bild mit einem purzel¬
baumschlagenden Ausbruch von Gutgelauntheit, der einen schönen Contrast
zu dem Jammer der Mutter und ihrer Kinder bildet.

Noch ein Paragraph aus dem Gefühlsleben unsres würdigen Grimes:
"Dann beugte ich abermals mein Haupt. Es ist keine Schande, in Palästina
geweint zu haben. Ich weinte, als ich Jerusalem sah, ich weinte, als ich im
Sternenlichte zu Bethlehem lag, ich weinte an den gesegneten Ufern des
Galiläischen Meeres Meine Hand hielt deshalb den Zügel nicht weniger
fest, mein Finger zitterte nicht am Drücker der Pistole, als ich mit ihr (natür¬
lich weinend) an den Gestaden des blauen Wassers hinritt. Mein Auge
wurde durch jene Zähren nicht getrübt, me^ Herz in keiner Weise zaghaft
gemacht. Möge der, welcher zu meiner Rührung die Nase rümpft, diesen
Band hier zuschlagen; denn er wird in meinen Reisen durch das heilige Land
wenig finden, was seinem Geschmacke zusagt." -- "Nie," so sagt Mark Twain
zu dieser Diatribe, "bohrt er nach Wasser, ohne auf Wasser zu stoßen."

Unser Humorist weint natürlich Jerusalem nicht an. Selbst seine "Pil-
grime" kriegen das nicht fertig. "Ich verzeichne es hier," so bemerkt er beim
ersten Blicke auf die heilige Stadt, "als eine bemerkenswerthe, aber den Be¬
treffenden nicht zur Unehre gereichende Thatsache, daß nicht einmal unsere
Pilgrime weinten. Ich glaube, daß sich in der Gesellschaft kein Einziger
befand, dessen Gehirn nicht voll von Gedanken, Bildern und Erinnerungen
war, wie sie die großartige Geschichte der ehrwürdigen Stadt, die vor uns
lag, hervorruft, aber trotzdem war unter ihnen allen keine "Stimme, die da
weinete." Es war kein Anlaß, Thränen zu vergießen. Die Gedanken, die
Jerusalem erweckt, sind voll Poesie, voll Erhabenheit, voll Würde. Solche
Gedanken finden aber ihren angemessnen Ausdruck nicht in Dingen, die in
die Kinderstube gehören" ....

Indeß, niemand entgeht seinem Schicksal ganz, und das Schicksal der
Sterblichen ist, gelegentlich zu weinen. Auch unser Mark Twain muß daran
glauben, nur einmal, aber doch einmal. Nicht weit von der Stelle in der
Kirche des heiligen Grabes, an der die Mönche dem Wallfahrer den Mittel-
Punkt der Erde und damit zugleich die Stelle zeigen, wo Gott den Staub
hernahm, aus dem er Adam schuf, befindet sich eine dritte große Merkwürdig¬
keit -- das Grab nämlich dieses Vaters des Menschengeschlechts, und hier


Grenzboten III. 1875. 34

die ganze christliche Familie in der Gewalt des muhammedanischen Scheichs,
damit er sie nach Gutdünken mit Geld- und strenger Körperstrafe belege.
„Als ich zu Pferde stieg," erzählt Herr Grimes, „bat Jusef mich noch einmal,
dazwischen zu treten und Mitleid mit ihnen zu haben; aber ich blickte die
dunkeln' Gesichter in der Runde an und konnte keinen Tropfen Mitleid mit
ihnen in meinem Herzen finden." Er schließt sein Bild mit einem purzel¬
baumschlagenden Ausbruch von Gutgelauntheit, der einen schönen Contrast
zu dem Jammer der Mutter und ihrer Kinder bildet.

Noch ein Paragraph aus dem Gefühlsleben unsres würdigen Grimes:
„Dann beugte ich abermals mein Haupt. Es ist keine Schande, in Palästina
geweint zu haben. Ich weinte, als ich Jerusalem sah, ich weinte, als ich im
Sternenlichte zu Bethlehem lag, ich weinte an den gesegneten Ufern des
Galiläischen Meeres Meine Hand hielt deshalb den Zügel nicht weniger
fest, mein Finger zitterte nicht am Drücker der Pistole, als ich mit ihr (natür¬
lich weinend) an den Gestaden des blauen Wassers hinritt. Mein Auge
wurde durch jene Zähren nicht getrübt, me^ Herz in keiner Weise zaghaft
gemacht. Möge der, welcher zu meiner Rührung die Nase rümpft, diesen
Band hier zuschlagen; denn er wird in meinen Reisen durch das heilige Land
wenig finden, was seinem Geschmacke zusagt." — „Nie," so sagt Mark Twain
zu dieser Diatribe, „bohrt er nach Wasser, ohne auf Wasser zu stoßen."

Unser Humorist weint natürlich Jerusalem nicht an. Selbst seine „Pil-
grime" kriegen das nicht fertig. „Ich verzeichne es hier," so bemerkt er beim
ersten Blicke auf die heilige Stadt, „als eine bemerkenswerthe, aber den Be¬
treffenden nicht zur Unehre gereichende Thatsache, daß nicht einmal unsere
Pilgrime weinten. Ich glaube, daß sich in der Gesellschaft kein Einziger
befand, dessen Gehirn nicht voll von Gedanken, Bildern und Erinnerungen
war, wie sie die großartige Geschichte der ehrwürdigen Stadt, die vor uns
lag, hervorruft, aber trotzdem war unter ihnen allen keine „Stimme, die da
weinete." Es war kein Anlaß, Thränen zu vergießen. Die Gedanken, die
Jerusalem erweckt, sind voll Poesie, voll Erhabenheit, voll Würde. Solche
Gedanken finden aber ihren angemessnen Ausdruck nicht in Dingen, die in
die Kinderstube gehören" ....

Indeß, niemand entgeht seinem Schicksal ganz, und das Schicksal der
Sterblichen ist, gelegentlich zu weinen. Auch unser Mark Twain muß daran
glauben, nur einmal, aber doch einmal. Nicht weit von der Stelle in der
Kirche des heiligen Grabes, an der die Mönche dem Wallfahrer den Mittel-
Punkt der Erde und damit zugleich die Stelle zeigen, wo Gott den Staub
hernahm, aus dem er Adam schuf, befindet sich eine dritte große Merkwürdig¬
keit — das Grab nämlich dieses Vaters des Menschengeschlechts, und hier


Grenzboten III. 1875. 34
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/273>, abgerufen am 26.06.2024.