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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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und vor seinen berühmten Landsee, der Genezareth. Fast alle Touristen, die
hierüber geschrieben haden, finden diesen See und seine Umgebung schön.
Einige von diesen verfuhren dabei ehrlich und aufrichtig, die Verehrung vor
den großen Dingen, die sich hier begeben haben, erhitzte ihre Phantasie, beein¬
flußte ihr Urtheil und verklärte ihre Erinnerung an diese Stätte der Wirksam¬
keit des Weltheilandes. Andere schrieben so, weil sie fürchteten, es würde dem
Publikum mißfallen, wenn sie anders schrieben. Wieder Andere waren Heuchler
und hatten die überlegte Absicht, zu täuschen. Ein Beispiel hiervon ist ein
Reisender, den unser Humorist Grimes nennt, der ihm aber nur der Typus
dieser ganzen häßlichen Klasse von Schönrednern ist. Derselbe sagt:

"Von der Schönheit der Gegend kann ich nicht genug sagen, noch ver¬
mag ich zu begreifen, wo die Reisenden ihre Augen hatten, welche die Land¬
schaft um den See als unbedeutend beschrieben haben. Der erste große
Charakterzug derselben ist das tiefe Becken, in dem er liegt. Dieses Becken
ist auf allen Seiten , das untere Ende ausgenommen, zwischen drei- und
vierhundert Fuß tief, und der steile Abhang der Ufer, die alle vom tiefsten
Grün sind, wird gebrochen und mit Abwechslung ausgestattet durch die
Wasserläufe, die sich ihren Weg durch die Seiten des Beckens brechen und
dunkle Schluchten oder helle, sonnige Thäler bilden. In der Nähe von
Tiberias sind diese Ufer felsig, und es öffnen sich in ihnen alte Grüfte, deren
Thüren dem Wasser zugekehrt sind. Man wählte gleich den Aegyptern des
Alterthums großartige Orte zu Begräbnißplätzen, wie wenn man die Absicht
gehabt, die Schläfer, wenn die Stimme Gottes sie erreichte, beim ersten Auf¬
thun der Augen auf Schauplätze voll glorreicher Schönheit blicken zu sehen.
Im Osten stechen die wilden und öden Berge schön von dem tiefblauen See
ab, und von Norden schaut erhaben und majestätisch der Hermon auf das
Meer herab, der seinen weißen Scheitel zum Himmel erhebt mit dem Stolze
eines Berges, der die scheidenden Fußtritte von hundert Geschlechtern
gesehen hat. Auf dem Nordostufer des Sees war ein einzelner Baum, der
einzige, der vom Wasser desselben aus sichtbar ist, ausgenommen ein paar
einsame Palmen in der Stadt Tiberias. Er lenkt durch seine vereinsamte
Stellung die Aufmerksamkeit mehr auf sich, als ein Wald sie auf sich lenken
würde.. Die ganze Erscheinung der Landschaft ist genau das, was wir von
der Landschaft um den See Genezareth erwarten -- großartige Schönheit,
aber stille Ruhe. Sogar die Berge sind ruhig."

Dazu bemerkt unser humoristischer Kritiker: "Der Mann ist ohne Zweifel
an herumspringende Berge gewöhnt. Sonst ist seine Beschreibung gut darauf
berechnet, zu täuschen. Aber wenn die Schminke, die Bänder und die Blumen
von ihr abgestreift sind, so wird man dahinter ein Gerippe finden. So des
täuschenden Flitters entkleidet, bleibt ein sechs (englische) Meilen breiter See


und vor seinen berühmten Landsee, der Genezareth. Fast alle Touristen, die
hierüber geschrieben haden, finden diesen See und seine Umgebung schön.
Einige von diesen verfuhren dabei ehrlich und aufrichtig, die Verehrung vor
den großen Dingen, die sich hier begeben haben, erhitzte ihre Phantasie, beein¬
flußte ihr Urtheil und verklärte ihre Erinnerung an diese Stätte der Wirksam¬
keit des Weltheilandes. Andere schrieben so, weil sie fürchteten, es würde dem
Publikum mißfallen, wenn sie anders schrieben. Wieder Andere waren Heuchler
und hatten die überlegte Absicht, zu täuschen. Ein Beispiel hiervon ist ein
Reisender, den unser Humorist Grimes nennt, der ihm aber nur der Typus
dieser ganzen häßlichen Klasse von Schönrednern ist. Derselbe sagt:

„Von der Schönheit der Gegend kann ich nicht genug sagen, noch ver¬
mag ich zu begreifen, wo die Reisenden ihre Augen hatten, welche die Land¬
schaft um den See als unbedeutend beschrieben haben. Der erste große
Charakterzug derselben ist das tiefe Becken, in dem er liegt. Dieses Becken
ist auf allen Seiten , das untere Ende ausgenommen, zwischen drei- und
vierhundert Fuß tief, und der steile Abhang der Ufer, die alle vom tiefsten
Grün sind, wird gebrochen und mit Abwechslung ausgestattet durch die
Wasserläufe, die sich ihren Weg durch die Seiten des Beckens brechen und
dunkle Schluchten oder helle, sonnige Thäler bilden. In der Nähe von
Tiberias sind diese Ufer felsig, und es öffnen sich in ihnen alte Grüfte, deren
Thüren dem Wasser zugekehrt sind. Man wählte gleich den Aegyptern des
Alterthums großartige Orte zu Begräbnißplätzen, wie wenn man die Absicht
gehabt, die Schläfer, wenn die Stimme Gottes sie erreichte, beim ersten Auf¬
thun der Augen auf Schauplätze voll glorreicher Schönheit blicken zu sehen.
Im Osten stechen die wilden und öden Berge schön von dem tiefblauen See
ab, und von Norden schaut erhaben und majestätisch der Hermon auf das
Meer herab, der seinen weißen Scheitel zum Himmel erhebt mit dem Stolze
eines Berges, der die scheidenden Fußtritte von hundert Geschlechtern
gesehen hat. Auf dem Nordostufer des Sees war ein einzelner Baum, der
einzige, der vom Wasser desselben aus sichtbar ist, ausgenommen ein paar
einsame Palmen in der Stadt Tiberias. Er lenkt durch seine vereinsamte
Stellung die Aufmerksamkeit mehr auf sich, als ein Wald sie auf sich lenken
würde.. Die ganze Erscheinung der Landschaft ist genau das, was wir von
der Landschaft um den See Genezareth erwarten — großartige Schönheit,
aber stille Ruhe. Sogar die Berge sind ruhig."

Dazu bemerkt unser humoristischer Kritiker: „Der Mann ist ohne Zweifel
an herumspringende Berge gewöhnt. Sonst ist seine Beschreibung gut darauf
berechnet, zu täuschen. Aber wenn die Schminke, die Bänder und die Blumen
von ihr abgestreift sind, so wird man dahinter ein Gerippe finden. So des
täuschenden Flitters entkleidet, bleibt ein sechs (englische) Meilen breiter See


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[0267] und vor seinen berühmten Landsee, der Genezareth. Fast alle Touristen, die hierüber geschrieben haden, finden diesen See und seine Umgebung schön. Einige von diesen verfuhren dabei ehrlich und aufrichtig, die Verehrung vor den großen Dingen, die sich hier begeben haben, erhitzte ihre Phantasie, beein¬ flußte ihr Urtheil und verklärte ihre Erinnerung an diese Stätte der Wirksam¬ keit des Weltheilandes. Andere schrieben so, weil sie fürchteten, es würde dem Publikum mißfallen, wenn sie anders schrieben. Wieder Andere waren Heuchler und hatten die überlegte Absicht, zu täuschen. Ein Beispiel hiervon ist ein Reisender, den unser Humorist Grimes nennt, der ihm aber nur der Typus dieser ganzen häßlichen Klasse von Schönrednern ist. Derselbe sagt: „Von der Schönheit der Gegend kann ich nicht genug sagen, noch ver¬ mag ich zu begreifen, wo die Reisenden ihre Augen hatten, welche die Land¬ schaft um den See als unbedeutend beschrieben haben. Der erste große Charakterzug derselben ist das tiefe Becken, in dem er liegt. Dieses Becken ist auf allen Seiten , das untere Ende ausgenommen, zwischen drei- und vierhundert Fuß tief, und der steile Abhang der Ufer, die alle vom tiefsten Grün sind, wird gebrochen und mit Abwechslung ausgestattet durch die Wasserläufe, die sich ihren Weg durch die Seiten des Beckens brechen und dunkle Schluchten oder helle, sonnige Thäler bilden. In der Nähe von Tiberias sind diese Ufer felsig, und es öffnen sich in ihnen alte Grüfte, deren Thüren dem Wasser zugekehrt sind. Man wählte gleich den Aegyptern des Alterthums großartige Orte zu Begräbnißplätzen, wie wenn man die Absicht gehabt, die Schläfer, wenn die Stimme Gottes sie erreichte, beim ersten Auf¬ thun der Augen auf Schauplätze voll glorreicher Schönheit blicken zu sehen. Im Osten stechen die wilden und öden Berge schön von dem tiefblauen See ab, und von Norden schaut erhaben und majestätisch der Hermon auf das Meer herab, der seinen weißen Scheitel zum Himmel erhebt mit dem Stolze eines Berges, der die scheidenden Fußtritte von hundert Geschlechtern gesehen hat. Auf dem Nordostufer des Sees war ein einzelner Baum, der einzige, der vom Wasser desselben aus sichtbar ist, ausgenommen ein paar einsame Palmen in der Stadt Tiberias. Er lenkt durch seine vereinsamte Stellung die Aufmerksamkeit mehr auf sich, als ein Wald sie auf sich lenken würde.. Die ganze Erscheinung der Landschaft ist genau das, was wir von der Landschaft um den See Genezareth erwarten — großartige Schönheit, aber stille Ruhe. Sogar die Berge sind ruhig." Dazu bemerkt unser humoristischer Kritiker: „Der Mann ist ohne Zweifel an herumspringende Berge gewöhnt. Sonst ist seine Beschreibung gut darauf berechnet, zu täuschen. Aber wenn die Schminke, die Bänder und die Blumen von ihr abgestreift sind, so wird man dahinter ein Gerippe finden. So des täuschenden Flitters entkleidet, bleibt ein sechs (englische) Meilen breiter See

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/267>, abgerufen am 26.06.2024.