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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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attischen. Sie entspricht den Zwecken eines Volkstheaters im vulgärsten und
niedrigsten Sinne, eines Volkstheaters, das im direkten Gegensatze zur Kunst¬
bühne steht.

Als eine wirkliche Vorläuferin der attischen kann die sicilische Ko¬
mödie angesehen werden, wie sie namentlich durch Epicharmus und So-
phron repräsentirt wird. Zwar sind auch diese nicht über die Travestie
mythischer Geschichten, oder über Charakterbilder und Sittengemälde hinaus¬
gekommen, aber, soweit sich nach vorhandenen Bruchstücken und Nachrichten
urtheilen läßt, haben sie ihren Werken doch einen höheren geistigen Gehalt
oder doch den Zauber einer wahrhaft poetischen Form verliehen, so daß diese
als bedeutende literarische Erscheinungen im Alterthum allgemein beachtet
wurden. Epicharmus benutzte, soweit sich übersehen läßt, die Komödie,
um den Reichthum seiner Gedanken in die anmuthige Hülle der poetischen
Form zu kleiden. So konnte er aussprechen, was er unter der Herrschaft
des Hieron in Syrakus nicht ungestraft gerade heraussagen durfte. Nicht
alle durchschauten diese Kunst des Dichters, der, indem er nur für angenehme
Unterhaltung zu sorgen schien, doch durch scharf gezeichnete Bilder der
Sitten und Verhältnisse seiner Zeit und durch eine scharfsinnige Lebensphilo¬
sophie belehrte. Doch gab es genug Kenner, bei welchen die goldenen Sprüche
seiner Weisheit in hohem Ansehen standen. Sie wurden bald ein Gemeingut
im gebildeten Alterthum, und der römische Dichter Ennius sorgte dafür, daß
sie auch bei den Römern in Umlauf kamen. Von Sophron ist bekannt,
daß Plato seine Dichtungen nach Athen verpflanzt und sorgfältig studirt
hat, um die in ihnen so hervorstechende Kunst der Darstellung sich für seine
philosophischen Dialoge anzueignen. Ebenso haben sie auch dem Theokrit
zum Vorbilde gedient, der darnach die Idylle als eine neue Spielart der
Kunstpoesie schuf. Diese Kunst der Darstellung fällt um so mehr ins Ge¬
wicht, als die Sprache dieses sogenannten "Mimen" die der Prosa war, und
doch den Zauber der Poesie an sich trug, und als es der Inhalt auf eine
möglichst getreue Darstellung von Charakteren und Sitten des gemeinen
Volkes abgesehen hatte, und dabei doch der Eindruck einer Naturwahrheit
und Originalität, die unerreichbar schienen, hervorgerufen wurde. Es waren
also in der sicilischen Komödie Elemente wirksam, die ihr den Charakter einer
künstlerischen Schöpfung sicherten.

Aber im vollen Sinne kann dies doch nur der sogenannten "alten"
attischen Komödie zugeschrieben werden. Das Wunderbare an ihr ist, daß sie
mit der Posse nicht wenig gemein hat und doch sich so wesentlich von ihr
unterscheidet, daß sie als eine davon himmelweit verschiedene Gattung erscheinen
muß. Auch sie erweckt Heiterkeit und kann dabei zu sehr derben Mitteln
greifen. Spott und Sittenschilderung und gelegentlich auch Parodie mythischer


Gicnzbotm lit. 1875. 32

attischen. Sie entspricht den Zwecken eines Volkstheaters im vulgärsten und
niedrigsten Sinne, eines Volkstheaters, das im direkten Gegensatze zur Kunst¬
bühne steht.

Als eine wirkliche Vorläuferin der attischen kann die sicilische Ko¬
mödie angesehen werden, wie sie namentlich durch Epicharmus und So-
phron repräsentirt wird. Zwar sind auch diese nicht über die Travestie
mythischer Geschichten, oder über Charakterbilder und Sittengemälde hinaus¬
gekommen, aber, soweit sich nach vorhandenen Bruchstücken und Nachrichten
urtheilen läßt, haben sie ihren Werken doch einen höheren geistigen Gehalt
oder doch den Zauber einer wahrhaft poetischen Form verliehen, so daß diese
als bedeutende literarische Erscheinungen im Alterthum allgemein beachtet
wurden. Epicharmus benutzte, soweit sich übersehen läßt, die Komödie,
um den Reichthum seiner Gedanken in die anmuthige Hülle der poetischen
Form zu kleiden. So konnte er aussprechen, was er unter der Herrschaft
des Hieron in Syrakus nicht ungestraft gerade heraussagen durfte. Nicht
alle durchschauten diese Kunst des Dichters, der, indem er nur für angenehme
Unterhaltung zu sorgen schien, doch durch scharf gezeichnete Bilder der
Sitten und Verhältnisse seiner Zeit und durch eine scharfsinnige Lebensphilo¬
sophie belehrte. Doch gab es genug Kenner, bei welchen die goldenen Sprüche
seiner Weisheit in hohem Ansehen standen. Sie wurden bald ein Gemeingut
im gebildeten Alterthum, und der römische Dichter Ennius sorgte dafür, daß
sie auch bei den Römern in Umlauf kamen. Von Sophron ist bekannt,
daß Plato seine Dichtungen nach Athen verpflanzt und sorgfältig studirt
hat, um die in ihnen so hervorstechende Kunst der Darstellung sich für seine
philosophischen Dialoge anzueignen. Ebenso haben sie auch dem Theokrit
zum Vorbilde gedient, der darnach die Idylle als eine neue Spielart der
Kunstpoesie schuf. Diese Kunst der Darstellung fällt um so mehr ins Ge¬
wicht, als die Sprache dieses sogenannten „Mimen" die der Prosa war, und
doch den Zauber der Poesie an sich trug, und als es der Inhalt auf eine
möglichst getreue Darstellung von Charakteren und Sitten des gemeinen
Volkes abgesehen hatte, und dabei doch der Eindruck einer Naturwahrheit
und Originalität, die unerreichbar schienen, hervorgerufen wurde. Es waren
also in der sicilischen Komödie Elemente wirksam, die ihr den Charakter einer
künstlerischen Schöpfung sicherten.

Aber im vollen Sinne kann dies doch nur der sogenannten „alten"
attischen Komödie zugeschrieben werden. Das Wunderbare an ihr ist, daß sie
mit der Posse nicht wenig gemein hat und doch sich so wesentlich von ihr
unterscheidet, daß sie als eine davon himmelweit verschiedene Gattung erscheinen
muß. Auch sie erweckt Heiterkeit und kann dabei zu sehr derben Mitteln
greifen. Spott und Sittenschilderung und gelegentlich auch Parodie mythischer


Gicnzbotm lit. 1875. 32
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[0257] attischen. Sie entspricht den Zwecken eines Volkstheaters im vulgärsten und niedrigsten Sinne, eines Volkstheaters, das im direkten Gegensatze zur Kunst¬ bühne steht. Als eine wirkliche Vorläuferin der attischen kann die sicilische Ko¬ mödie angesehen werden, wie sie namentlich durch Epicharmus und So- phron repräsentirt wird. Zwar sind auch diese nicht über die Travestie mythischer Geschichten, oder über Charakterbilder und Sittengemälde hinaus¬ gekommen, aber, soweit sich nach vorhandenen Bruchstücken und Nachrichten urtheilen läßt, haben sie ihren Werken doch einen höheren geistigen Gehalt oder doch den Zauber einer wahrhaft poetischen Form verliehen, so daß diese als bedeutende literarische Erscheinungen im Alterthum allgemein beachtet wurden. Epicharmus benutzte, soweit sich übersehen läßt, die Komödie, um den Reichthum seiner Gedanken in die anmuthige Hülle der poetischen Form zu kleiden. So konnte er aussprechen, was er unter der Herrschaft des Hieron in Syrakus nicht ungestraft gerade heraussagen durfte. Nicht alle durchschauten diese Kunst des Dichters, der, indem er nur für angenehme Unterhaltung zu sorgen schien, doch durch scharf gezeichnete Bilder der Sitten und Verhältnisse seiner Zeit und durch eine scharfsinnige Lebensphilo¬ sophie belehrte. Doch gab es genug Kenner, bei welchen die goldenen Sprüche seiner Weisheit in hohem Ansehen standen. Sie wurden bald ein Gemeingut im gebildeten Alterthum, und der römische Dichter Ennius sorgte dafür, daß sie auch bei den Römern in Umlauf kamen. Von Sophron ist bekannt, daß Plato seine Dichtungen nach Athen verpflanzt und sorgfältig studirt hat, um die in ihnen so hervorstechende Kunst der Darstellung sich für seine philosophischen Dialoge anzueignen. Ebenso haben sie auch dem Theokrit zum Vorbilde gedient, der darnach die Idylle als eine neue Spielart der Kunstpoesie schuf. Diese Kunst der Darstellung fällt um so mehr ins Ge¬ wicht, als die Sprache dieses sogenannten „Mimen" die der Prosa war, und doch den Zauber der Poesie an sich trug, und als es der Inhalt auf eine möglichst getreue Darstellung von Charakteren und Sitten des gemeinen Volkes abgesehen hatte, und dabei doch der Eindruck einer Naturwahrheit und Originalität, die unerreichbar schienen, hervorgerufen wurde. Es waren also in der sicilischen Komödie Elemente wirksam, die ihr den Charakter einer künstlerischen Schöpfung sicherten. Aber im vollen Sinne kann dies doch nur der sogenannten „alten" attischen Komödie zugeschrieben werden. Das Wunderbare an ihr ist, daß sie mit der Posse nicht wenig gemein hat und doch sich so wesentlich von ihr unterscheidet, daß sie als eine davon himmelweit verschiedene Gattung erscheinen muß. Auch sie erweckt Heiterkeit und kann dabei zu sehr derben Mitteln greifen. Spott und Sittenschilderung und gelegentlich auch Parodie mythischer Gicnzbotm lit. 1875. 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/257>, abgerufen am 26.06.2024.