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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Es kann nach dem Bisherigen wohl nicht befremden, wenn ich behaupte,
daß die attische Bühne, gerade weil sie so im vollsten und edelsten Sinne des
Wortes ein Volkstheater war, auch eine Kunstbühne von hervorragendster
Bedeutung sein konnte Zwar ist das Genie bewunderungswürdig, mit
welchem die attischen Dramatiker sowohl in der Tragödie, wie in der Komödie
ganz neue poetische Gattungen, ohne fremde Muster nachahmen zu können,
aus ureigener Kraft geschaffen haben. Die Tragödie als die Darstellung einer
geschlossenen Handlung durch agirende Personen ist so ausschließlich ein Werk
der Attiker, daß, wenn es vor ihrer Entstehung anderwärts schon Festspiele
gab, welche den Namen "tragischer Chöre" führten, dies doch gar nicht als
ein Drama in unserm Sinne angesehen werden kann. Es waren Gefüge von
Chorgesängen, zu denen sich höchstens ein epischer Vortrag und etwa noch
mimische Darstellungen gesellten. Solche sogenannte "lyrischen Tragödien" sind
die zwar Keime, aus denen die attische Tragödie seit etwa 536, wo Thespis
auftritt, hervorgegangen ist. Aber schon von S00 an führt die Meisterhand
des Aeschylus sie ihrer Vollendung entgegen, um dann Sophokles von
468 an die letzte Hand anlegen zu lassen. Ebenso ist auch die Komödie
eine originale Schöpfung der Attiker, wie nachher noch ausführlicher gezeigt
werden soll, und auch sie ist in kürzester Zeit ihrer Vollendung zugeführt
worden. Es zeugt von einer eminenten Begabung der attischen Dichter, daß
sie in dieser schöpferischen Weise aufgetreten sind. Aber alle Macht des
dichterischen Genius wäre nicht im Stande gewesen, sie dazu zu befähigen,
wenn nicht ein ungewöhnlicher Aufschwung im geistigen Leben des ganzen Volkes
und der innige Antheil, welchen die Gesammtheit des Volkes an den neuen
dichterischen Gattungen nahm, helfend und fördernd sich zugesellt hätte. Die
Blüthe des Dramas geht Hand in Hand damit, daß die sich vollendende
Demokratie alle geistigen Kräfte entfesselte und aufs äußerste anspannte, um
Athen zum ersten Staate Griechenlands zu machen. Also gerade weil die
Attische Bühne so im vollsten und edelsten Sinne des Wortes ein Volks¬
theater war, konnte sie auch eine Kunstbühne von hervorragenster Be¬
deutung sein.

Daß sie letzteres war, bedarf wohl schwerlich eines Nachweises. Wohl
aber möchte ich dadurch, daß ich näher auf die Komödie eingehe anschaulich
machen, worin sich die Attiker mit dem übrigen Griechenland berühren. Hier
ist es, wo der Unterschied zwischen Kunstbühne und bloßem Volkstheater
lebendig zur Anschauung kommen kann.

Die Komödie im übrigen Griechenland ist fast überall die Posse. Wir
finden sie im Gefolge der Lustbarkeiten, wie sie namentlich an den Festen der
Winzer stattfanden. Ehe es hierbei zu wirklichen scenischen Spielen kam,
war sie nichts als ein naiver Ausbruch des Muthwillens. Geschminkte


Es kann nach dem Bisherigen wohl nicht befremden, wenn ich behaupte,
daß die attische Bühne, gerade weil sie so im vollsten und edelsten Sinne des
Wortes ein Volkstheater war, auch eine Kunstbühne von hervorragendster
Bedeutung sein konnte Zwar ist das Genie bewunderungswürdig, mit
welchem die attischen Dramatiker sowohl in der Tragödie, wie in der Komödie
ganz neue poetische Gattungen, ohne fremde Muster nachahmen zu können,
aus ureigener Kraft geschaffen haben. Die Tragödie als die Darstellung einer
geschlossenen Handlung durch agirende Personen ist so ausschließlich ein Werk
der Attiker, daß, wenn es vor ihrer Entstehung anderwärts schon Festspiele
gab, welche den Namen „tragischer Chöre" führten, dies doch gar nicht als
ein Drama in unserm Sinne angesehen werden kann. Es waren Gefüge von
Chorgesängen, zu denen sich höchstens ein epischer Vortrag und etwa noch
mimische Darstellungen gesellten. Solche sogenannte „lyrischen Tragödien" sind
die zwar Keime, aus denen die attische Tragödie seit etwa 536, wo Thespis
auftritt, hervorgegangen ist. Aber schon von S00 an führt die Meisterhand
des Aeschylus sie ihrer Vollendung entgegen, um dann Sophokles von
468 an die letzte Hand anlegen zu lassen. Ebenso ist auch die Komödie
eine originale Schöpfung der Attiker, wie nachher noch ausführlicher gezeigt
werden soll, und auch sie ist in kürzester Zeit ihrer Vollendung zugeführt
worden. Es zeugt von einer eminenten Begabung der attischen Dichter, daß
sie in dieser schöpferischen Weise aufgetreten sind. Aber alle Macht des
dichterischen Genius wäre nicht im Stande gewesen, sie dazu zu befähigen,
wenn nicht ein ungewöhnlicher Aufschwung im geistigen Leben des ganzen Volkes
und der innige Antheil, welchen die Gesammtheit des Volkes an den neuen
dichterischen Gattungen nahm, helfend und fördernd sich zugesellt hätte. Die
Blüthe des Dramas geht Hand in Hand damit, daß die sich vollendende
Demokratie alle geistigen Kräfte entfesselte und aufs äußerste anspannte, um
Athen zum ersten Staate Griechenlands zu machen. Also gerade weil die
Attische Bühne so im vollsten und edelsten Sinne des Wortes ein Volks¬
theater war, konnte sie auch eine Kunstbühne von hervorragenster Be¬
deutung sein.

Daß sie letzteres war, bedarf wohl schwerlich eines Nachweises. Wohl
aber möchte ich dadurch, daß ich näher auf die Komödie eingehe anschaulich
machen, worin sich die Attiker mit dem übrigen Griechenland berühren. Hier
ist es, wo der Unterschied zwischen Kunstbühne und bloßem Volkstheater
lebendig zur Anschauung kommen kann.

Die Komödie im übrigen Griechenland ist fast überall die Posse. Wir
finden sie im Gefolge der Lustbarkeiten, wie sie namentlich an den Festen der
Winzer stattfanden. Ehe es hierbei zu wirklichen scenischen Spielen kam,
war sie nichts als ein naiver Ausbruch des Muthwillens. Geschminkte


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[0255] Es kann nach dem Bisherigen wohl nicht befremden, wenn ich behaupte, daß die attische Bühne, gerade weil sie so im vollsten und edelsten Sinne des Wortes ein Volkstheater war, auch eine Kunstbühne von hervorragendster Bedeutung sein konnte Zwar ist das Genie bewunderungswürdig, mit welchem die attischen Dramatiker sowohl in der Tragödie, wie in der Komödie ganz neue poetische Gattungen, ohne fremde Muster nachahmen zu können, aus ureigener Kraft geschaffen haben. Die Tragödie als die Darstellung einer geschlossenen Handlung durch agirende Personen ist so ausschließlich ein Werk der Attiker, daß, wenn es vor ihrer Entstehung anderwärts schon Festspiele gab, welche den Namen „tragischer Chöre" führten, dies doch gar nicht als ein Drama in unserm Sinne angesehen werden kann. Es waren Gefüge von Chorgesängen, zu denen sich höchstens ein epischer Vortrag und etwa noch mimische Darstellungen gesellten. Solche sogenannte „lyrischen Tragödien" sind die zwar Keime, aus denen die attische Tragödie seit etwa 536, wo Thespis auftritt, hervorgegangen ist. Aber schon von S00 an führt die Meisterhand des Aeschylus sie ihrer Vollendung entgegen, um dann Sophokles von 468 an die letzte Hand anlegen zu lassen. Ebenso ist auch die Komödie eine originale Schöpfung der Attiker, wie nachher noch ausführlicher gezeigt werden soll, und auch sie ist in kürzester Zeit ihrer Vollendung zugeführt worden. Es zeugt von einer eminenten Begabung der attischen Dichter, daß sie in dieser schöpferischen Weise aufgetreten sind. Aber alle Macht des dichterischen Genius wäre nicht im Stande gewesen, sie dazu zu befähigen, wenn nicht ein ungewöhnlicher Aufschwung im geistigen Leben des ganzen Volkes und der innige Antheil, welchen die Gesammtheit des Volkes an den neuen dichterischen Gattungen nahm, helfend und fördernd sich zugesellt hätte. Die Blüthe des Dramas geht Hand in Hand damit, daß die sich vollendende Demokratie alle geistigen Kräfte entfesselte und aufs äußerste anspannte, um Athen zum ersten Staate Griechenlands zu machen. Also gerade weil die Attische Bühne so im vollsten und edelsten Sinne des Wortes ein Volks¬ theater war, konnte sie auch eine Kunstbühne von hervorragenster Be¬ deutung sein. Daß sie letzteres war, bedarf wohl schwerlich eines Nachweises. Wohl aber möchte ich dadurch, daß ich näher auf die Komödie eingehe anschaulich machen, worin sich die Attiker mit dem übrigen Griechenland berühren. Hier ist es, wo der Unterschied zwischen Kunstbühne und bloßem Volkstheater lebendig zur Anschauung kommen kann. Die Komödie im übrigen Griechenland ist fast überall die Posse. Wir finden sie im Gefolge der Lustbarkeiten, wie sie namentlich an den Festen der Winzer stattfanden. Ehe es hierbei zu wirklichen scenischen Spielen kam, war sie nichts als ein naiver Ausbruch des Muthwillens. Geschminkte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/255>, abgerufen am 26.06.2024.