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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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titer, der von jeher allgemein als der Vollender und Meister der antiken
Tragödie gegolten hat.

Zugleich aber war die attische Bühne auch im edelsten Sinne ein Volks¬
theater, insofern an ihr das gesammte Volk den lebendigsten, ja man kann
wohl sagen leidenschaftlichsten Antheil nahm. Das Volk verehrte in den
Tragikern seine Lehrer, und wenn auch die Zeiten nicht immer bleiben konnten,
wo es ihren Worten mit Andacht und Hingebung lauschte, wenn auch Zeiten
kamen, wo das Publikum schwerer zu befriedigen war, und die Dichter vor
ihm einen schweren Stand hatten, und wo es sich ältere und hochangesehene
Dichter mußten gefallen lassen, daß ihnen jüngere' unbedeutendere Talente für
den Augenblick vorgezogen wurden, dennoch wurde jeder neuen Schöpfung
mit dem gespanntesten Interesse entgegengesehen, keins der Worte ging ver¬
loren, und was durchschlagend und zündend wirkte, das wurzelte so fest im
Gedächtniß der Athener, daß es mitunter selbst über die Grenzen von Attika
hinaus in Umlauf kam.

Es sind mancherlei kleine Züge überliefert, die beweisen, welch großes
Interesse die Athener am Theater nahmen. Wehe den Schauspielern unter¬
geordneten Ranges, die eine Rolle von einiger Bedeutung verdarben. Sie
mußten nicht bloß auf Zischen, Austrommeln, Werfen mit Steinen, sondern
unter Umständen sogar auf Schläge gefaßt sein, die ihnen von Rechtswegen
auch noch später zu Theil werden konnten. Eben so seltsam wie das Letztere
kann es uns erscheinen, wenn einst die Richter einen Schauspieler Oiagros
nicht eher freiließen, als bis er ihnen den schönsten Theil der Tragödie Niobe
vorgetragen hatte. Doch mehr als auf solche kleine Züge will ich darauf
Gewicht legen, daß die Chöre in den aufzuführenden Dramen von freien
Bürgern gebildet wurden, welche es für eine Ehre hielten, an den Festen, zu
deren Verherrlichung die Aufführungen stattfanden, einerseits in den zur
Ausführung kommenden Tänzen die gymnastische Durchbildung ihres Körpers
öffentlich darzuthun und neben Anstand und Grazie Geschmeidigkeit und
ausdauernde Kraft an den Tag zu legen, andererseits in den Chorgesängen
Proben ihrer musikalischen Bildung abzulegen. Die Ausrüstung und Ein¬
übung eines solchen Chores aber war die patriotische Ehrenpflicht des reichen
Bürgers, der sich keiner entziehen konnte, wenn die Reihe an ihn kam. Der
jedesmalige Ausrüster des Chores eines Stückes that es im Namen seines
Stammes und that es im Wettstreit mit denen, welche die Chöre zu den
andern zum dramatischen Wettkampf zugelassenen Stücken auszurüsten hatten,
und ein Sieg wurde als die Ehre und der Stolz des ganzen Stammes an¬
gesehen. Der Aufwand für eine solche Ausrüstung war aber nicht gering.
Denn es war für den Unterricht und den Unterhalt der am Chor Betheiligten
zu sorgen, es war sogar auch das Publikum zu bewirthen, zum Schluß den


titer, der von jeher allgemein als der Vollender und Meister der antiken
Tragödie gegolten hat.

Zugleich aber war die attische Bühne auch im edelsten Sinne ein Volks¬
theater, insofern an ihr das gesammte Volk den lebendigsten, ja man kann
wohl sagen leidenschaftlichsten Antheil nahm. Das Volk verehrte in den
Tragikern seine Lehrer, und wenn auch die Zeiten nicht immer bleiben konnten,
wo es ihren Worten mit Andacht und Hingebung lauschte, wenn auch Zeiten
kamen, wo das Publikum schwerer zu befriedigen war, und die Dichter vor
ihm einen schweren Stand hatten, und wo es sich ältere und hochangesehene
Dichter mußten gefallen lassen, daß ihnen jüngere' unbedeutendere Talente für
den Augenblick vorgezogen wurden, dennoch wurde jeder neuen Schöpfung
mit dem gespanntesten Interesse entgegengesehen, keins der Worte ging ver¬
loren, und was durchschlagend und zündend wirkte, das wurzelte so fest im
Gedächtniß der Athener, daß es mitunter selbst über die Grenzen von Attika
hinaus in Umlauf kam.

Es sind mancherlei kleine Züge überliefert, die beweisen, welch großes
Interesse die Athener am Theater nahmen. Wehe den Schauspielern unter¬
geordneten Ranges, die eine Rolle von einiger Bedeutung verdarben. Sie
mußten nicht bloß auf Zischen, Austrommeln, Werfen mit Steinen, sondern
unter Umständen sogar auf Schläge gefaßt sein, die ihnen von Rechtswegen
auch noch später zu Theil werden konnten. Eben so seltsam wie das Letztere
kann es uns erscheinen, wenn einst die Richter einen Schauspieler Oiagros
nicht eher freiließen, als bis er ihnen den schönsten Theil der Tragödie Niobe
vorgetragen hatte. Doch mehr als auf solche kleine Züge will ich darauf
Gewicht legen, daß die Chöre in den aufzuführenden Dramen von freien
Bürgern gebildet wurden, welche es für eine Ehre hielten, an den Festen, zu
deren Verherrlichung die Aufführungen stattfanden, einerseits in den zur
Ausführung kommenden Tänzen die gymnastische Durchbildung ihres Körpers
öffentlich darzuthun und neben Anstand und Grazie Geschmeidigkeit und
ausdauernde Kraft an den Tag zu legen, andererseits in den Chorgesängen
Proben ihrer musikalischen Bildung abzulegen. Die Ausrüstung und Ein¬
übung eines solchen Chores aber war die patriotische Ehrenpflicht des reichen
Bürgers, der sich keiner entziehen konnte, wenn die Reihe an ihn kam. Der
jedesmalige Ausrüster des Chores eines Stückes that es im Namen seines
Stammes und that es im Wettstreit mit denen, welche die Chöre zu den
andern zum dramatischen Wettkampf zugelassenen Stücken auszurüsten hatten,
und ein Sieg wurde als die Ehre und der Stolz des ganzen Stammes an¬
gesehen. Der Aufwand für eine solche Ausrüstung war aber nicht gering.
Denn es war für den Unterricht und den Unterhalt der am Chor Betheiligten
zu sorgen, es war sogar auch das Publikum zu bewirthen, zum Schluß den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/253>, abgerufen am 26.06.2024.