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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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ein solches nun Volkstheater ist und dabei doch wahre Kunstbühne, desto mehr
steht es auf der Höhe seiner Aufgabe.

In dieser Beziehung nun kann uns eine Vergleichung unserer Bühnen
mit dem griechischen Theater außerordentlich heilsam sein. Sehen wir von der
Zeit ab, wo die dramatische Produktion aufhörte, dagegen allenthalben in
der von dem hellenischen Einfluß berührten Welt Theater gebaut wurden,
auf denen besonders die Werke der drei großen Meister Aeschylus, Sophokles
und Euripides fortlebten, berücksichtigen wir allein die Zeit des lebendigen
Wachsthums und des frischen Schaffens, so tritt uns an der Attischen Bühne
mit vollster Deutlichkeit entgegen, was es mit der Vereinigung von Volks¬
theater und Kunstbühne für eine Bewandtniß hat, während wir im übrigen
Griechenland nur die Anfänge eines Volkstheaters untergeordneter Art und
nur ganz vereinzelte Ansätze zu einer wirklichen Kunstbühne finden.

Die attische Bühne war im eigentlichsten und vollsten Sinne ein Volks¬
theater , denn ihr Publikum bildete, wenigstens gerade in der Zeit der höchsten
Blüthe des Dramas, wirklich die Gesammtheit des Volkes, wenn auch freilich
die gerade in Athen eine unwürdige Stellung einnehmenden Frauen höchst¬
wahrscheinlich vom Theaterbesuch ausgeschlossen blieben. Die Zahl der im
Theater Versammelten wird auf 30,000 angegeben, und es ist nicht anzu¬
nehmen, daß dies nur eine runde Summe ist, um eine große Menge zu
bezeichnen. So hoch belief sich aber ungefähr die attische Bürgerschaft. Auf
jeden Fall aber läßt sich sagen, daß im Großen und Ganzen das Volk von
Athen die Vorstellungen im Theater beiwohnte. Selbst die Knaben waren
nicht ausgeschlossen. Auch war ausdrücklich von Seiten des Staates darauf
Bedacht genommen, daß der Zutritt zum Theater allen Bürgern ermöglicht
würde. Denn der Staat zahlte, seit Perikles auf die Staatsverwaltung
Einfluß gewann, zuerst den ärmeren Bürgern, die davon Gebrauch machen
wollten, später sämmtlichen Bürgern das Eintrittsgeld, welches in die
Kasse des Theaterpächters floß. Das Theater wurde als ein Mittel der
Volkserziehung angesehen, und es sollte nicht nur allen erleichtert werden,
von diesem Mittel Gebrauch zu machen, es wurde vielmehr jedem zur Pflicht
gemacht. Zu einem solchen Volkstheater im vollsten Sinne des Wortes wurde
die attische Bühne in eben der Zeit, wo die Demokratie in Athen immer
mehr zur vollen Wahrheit wurde. Sein Publikum bildete die demokratische
Masse in einem Umfange, wie es nicht vollkommener gedacht werden kann,
und wenn das Sichgeltendmachen der demokratischen Masse ein Hinderniß für
die Tragödie sein sollte, so mußte die Tragödie in jener Zeit verkümmert sein.
Aber vielmehr wurde die ätherische Bühne in dem angegebenen Sinn gerade
um eben dieselbe Zeit Volkstheater, wo Sophokles auftrat, eben der Drama-


ein solches nun Volkstheater ist und dabei doch wahre Kunstbühne, desto mehr
steht es auf der Höhe seiner Aufgabe.

In dieser Beziehung nun kann uns eine Vergleichung unserer Bühnen
mit dem griechischen Theater außerordentlich heilsam sein. Sehen wir von der
Zeit ab, wo die dramatische Produktion aufhörte, dagegen allenthalben in
der von dem hellenischen Einfluß berührten Welt Theater gebaut wurden,
auf denen besonders die Werke der drei großen Meister Aeschylus, Sophokles
und Euripides fortlebten, berücksichtigen wir allein die Zeit des lebendigen
Wachsthums und des frischen Schaffens, so tritt uns an der Attischen Bühne
mit vollster Deutlichkeit entgegen, was es mit der Vereinigung von Volks¬
theater und Kunstbühne für eine Bewandtniß hat, während wir im übrigen
Griechenland nur die Anfänge eines Volkstheaters untergeordneter Art und
nur ganz vereinzelte Ansätze zu einer wirklichen Kunstbühne finden.

Die attische Bühne war im eigentlichsten und vollsten Sinne ein Volks¬
theater , denn ihr Publikum bildete, wenigstens gerade in der Zeit der höchsten
Blüthe des Dramas, wirklich die Gesammtheit des Volkes, wenn auch freilich
die gerade in Athen eine unwürdige Stellung einnehmenden Frauen höchst¬
wahrscheinlich vom Theaterbesuch ausgeschlossen blieben. Die Zahl der im
Theater Versammelten wird auf 30,000 angegeben, und es ist nicht anzu¬
nehmen, daß dies nur eine runde Summe ist, um eine große Menge zu
bezeichnen. So hoch belief sich aber ungefähr die attische Bürgerschaft. Auf
jeden Fall aber läßt sich sagen, daß im Großen und Ganzen das Volk von
Athen die Vorstellungen im Theater beiwohnte. Selbst die Knaben waren
nicht ausgeschlossen. Auch war ausdrücklich von Seiten des Staates darauf
Bedacht genommen, daß der Zutritt zum Theater allen Bürgern ermöglicht
würde. Denn der Staat zahlte, seit Perikles auf die Staatsverwaltung
Einfluß gewann, zuerst den ärmeren Bürgern, die davon Gebrauch machen
wollten, später sämmtlichen Bürgern das Eintrittsgeld, welches in die
Kasse des Theaterpächters floß. Das Theater wurde als ein Mittel der
Volkserziehung angesehen, und es sollte nicht nur allen erleichtert werden,
von diesem Mittel Gebrauch zu machen, es wurde vielmehr jedem zur Pflicht
gemacht. Zu einem solchen Volkstheater im vollsten Sinne des Wortes wurde
die attische Bühne in eben der Zeit, wo die Demokratie in Athen immer
mehr zur vollen Wahrheit wurde. Sein Publikum bildete die demokratische
Masse in einem Umfange, wie es nicht vollkommener gedacht werden kann,
und wenn das Sichgeltendmachen der demokratischen Masse ein Hinderniß für
die Tragödie sein sollte, so mußte die Tragödie in jener Zeit verkümmert sein.
Aber vielmehr wurde die ätherische Bühne in dem angegebenen Sinn gerade
um eben dieselbe Zeit Volkstheater, wo Sophokles auftrat, eben der Drama-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/252>, abgerufen am 26.06.2024.