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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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ters entkleidete und sie auf einen universelleren, allgemein mensch¬
lichen Standpunkt erhob.

Wer dies alles ignorirt und Zeiten wie die des Euripides und Aristo-
phanes als solche bezeichnet, die sich nicht mehr für die Tragödie eignen, der
verfährt in der That mit nicht geringer Oberflächlichkeit. Aber wie schon
bemerkt, man braucht noch gar nicht diese Oberflächlichkeit zu besitzen und
kann doch schon sehr entschieden straucheln, wenn man von dem griechischen
Theater Schlüsse aus unsere Bühnen ziehen will.

Sie müssen nothwendig übel gerathen und Verkehrtheiten zu Tage fördern,
wenn dabei der Umstand außer Acht gelassen wird, daß die landläufige Gegen¬
überstellung von griechischem und deutschem Theater ein ganz eoncretes
einzelnes Theater, nämlich die Attische Bühne, einem Abstraktum gegenüber
setzt, nämlich einem Gesammtbegriffe, der vielleicht gegen 200 äußerst ver¬
schiedenartige und verschiedenwerthige Bühnen umfaßt. Dieses sogenannte
deutsche Theater als solches, abgesehen von den unendlich vielen Verschieden¬
heiten, die zwischen den einzelnen Theatern bestehen -- man gehe nur die
Stufenleiter durch, die allein die Berliner Theater abgeben -- dieser Begriff
der das allen Gemeinsame umfaßt, ist ziemlich vage und inhaltslos,
während die attische Bühne eine äußerst inhaltsreiche Realität ist. Denn
sie ist eine Vereinigung von Volkstheater und Kunstbühne, wie
sie seitdem nie wieder dagewesen ist und schwerlich je wieder vorkommen wird.

Es ist der Mühe werth, den Unterschied beider Begriffe näher ins Auge
zu fassen. Je lebendiger uns derselbe gegenwärtig ist, desto leichter muß es
uns werden, unsere Bühnen, je nachdem eine Vereinigung jener beiden
Momente entweder gar nicht oder doch in sehr verschiedener Weise stattfindet,
nach ihrem wahren Charakter von einander zu unterscheiden und in das
richtige Rangverhältniß zu einander zu stellen. Eine Bühne, welche Kunst¬
bühne in dem Sinne wäre, daß von den Eigenschaften eines Volks-Theaters
keine Spur an ihr übrig geblieben wäre, könnte nicht als eine Stätte wahrer
Kunstpflege angesehen werden. Ihrer Kunst würde alle Gemeinverständlichkeit
abgehen, sie würde nichts als ein sich vornehm spreizender Prunk mit
Künsteleien sein, der sich vorgeblich an ein Publikum von Gebildeten und in
ihrem Geschmack besonders wählerischen Leuten, in Wahrheit aber an Ver¬
bildete richten würde, die nur noch für raffinirte Reizmittel Geschmack hätten.
Umgekehrt wäre ein Volkstheater ohne jede künstlerische Tendenz ein Ort
gewöhnlichster Volksbelustigung, und es dürste wohl schwerlich ausbleiben,
daß Roheit und Gemeinheit sehr bald Platz greifen würden. Eine Vereinigung
beider Momente ist also geboten, und unerläßlich, wenn das Theater irgend¬
wie höheren Zwecken dienen und einigermaßen Werth haben soll. Je mehr


ters entkleidete und sie auf einen universelleren, allgemein mensch¬
lichen Standpunkt erhob.

Wer dies alles ignorirt und Zeiten wie die des Euripides und Aristo-
phanes als solche bezeichnet, die sich nicht mehr für die Tragödie eignen, der
verfährt in der That mit nicht geringer Oberflächlichkeit. Aber wie schon
bemerkt, man braucht noch gar nicht diese Oberflächlichkeit zu besitzen und
kann doch schon sehr entschieden straucheln, wenn man von dem griechischen
Theater Schlüsse aus unsere Bühnen ziehen will.

Sie müssen nothwendig übel gerathen und Verkehrtheiten zu Tage fördern,
wenn dabei der Umstand außer Acht gelassen wird, daß die landläufige Gegen¬
überstellung von griechischem und deutschem Theater ein ganz eoncretes
einzelnes Theater, nämlich die Attische Bühne, einem Abstraktum gegenüber
setzt, nämlich einem Gesammtbegriffe, der vielleicht gegen 200 äußerst ver¬
schiedenartige und verschiedenwerthige Bühnen umfaßt. Dieses sogenannte
deutsche Theater als solches, abgesehen von den unendlich vielen Verschieden¬
heiten, die zwischen den einzelnen Theatern bestehen — man gehe nur die
Stufenleiter durch, die allein die Berliner Theater abgeben — dieser Begriff
der das allen Gemeinsame umfaßt, ist ziemlich vage und inhaltslos,
während die attische Bühne eine äußerst inhaltsreiche Realität ist. Denn
sie ist eine Vereinigung von Volkstheater und Kunstbühne, wie
sie seitdem nie wieder dagewesen ist und schwerlich je wieder vorkommen wird.

Es ist der Mühe werth, den Unterschied beider Begriffe näher ins Auge
zu fassen. Je lebendiger uns derselbe gegenwärtig ist, desto leichter muß es
uns werden, unsere Bühnen, je nachdem eine Vereinigung jener beiden
Momente entweder gar nicht oder doch in sehr verschiedener Weise stattfindet,
nach ihrem wahren Charakter von einander zu unterscheiden und in das
richtige Rangverhältniß zu einander zu stellen. Eine Bühne, welche Kunst¬
bühne in dem Sinne wäre, daß von den Eigenschaften eines Volks-Theaters
keine Spur an ihr übrig geblieben wäre, könnte nicht als eine Stätte wahrer
Kunstpflege angesehen werden. Ihrer Kunst würde alle Gemeinverständlichkeit
abgehen, sie würde nichts als ein sich vornehm spreizender Prunk mit
Künsteleien sein, der sich vorgeblich an ein Publikum von Gebildeten und in
ihrem Geschmack besonders wählerischen Leuten, in Wahrheit aber an Ver¬
bildete richten würde, die nur noch für raffinirte Reizmittel Geschmack hätten.
Umgekehrt wäre ein Volkstheater ohne jede künstlerische Tendenz ein Ort
gewöhnlichster Volksbelustigung, und es dürste wohl schwerlich ausbleiben,
daß Roheit und Gemeinheit sehr bald Platz greifen würden. Eine Vereinigung
beider Momente ist also geboten, und unerläßlich, wenn das Theater irgend¬
wie höheren Zwecken dienen und einigermaßen Werth haben soll. Je mehr


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[0251] ters entkleidete und sie auf einen universelleren, allgemein mensch¬ lichen Standpunkt erhob. Wer dies alles ignorirt und Zeiten wie die des Euripides und Aristo- phanes als solche bezeichnet, die sich nicht mehr für die Tragödie eignen, der verfährt in der That mit nicht geringer Oberflächlichkeit. Aber wie schon bemerkt, man braucht noch gar nicht diese Oberflächlichkeit zu besitzen und kann doch schon sehr entschieden straucheln, wenn man von dem griechischen Theater Schlüsse aus unsere Bühnen ziehen will. Sie müssen nothwendig übel gerathen und Verkehrtheiten zu Tage fördern, wenn dabei der Umstand außer Acht gelassen wird, daß die landläufige Gegen¬ überstellung von griechischem und deutschem Theater ein ganz eoncretes einzelnes Theater, nämlich die Attische Bühne, einem Abstraktum gegenüber setzt, nämlich einem Gesammtbegriffe, der vielleicht gegen 200 äußerst ver¬ schiedenartige und verschiedenwerthige Bühnen umfaßt. Dieses sogenannte deutsche Theater als solches, abgesehen von den unendlich vielen Verschieden¬ heiten, die zwischen den einzelnen Theatern bestehen — man gehe nur die Stufenleiter durch, die allein die Berliner Theater abgeben — dieser Begriff der das allen Gemeinsame umfaßt, ist ziemlich vage und inhaltslos, während die attische Bühne eine äußerst inhaltsreiche Realität ist. Denn sie ist eine Vereinigung von Volkstheater und Kunstbühne, wie sie seitdem nie wieder dagewesen ist und schwerlich je wieder vorkommen wird. Es ist der Mühe werth, den Unterschied beider Begriffe näher ins Auge zu fassen. Je lebendiger uns derselbe gegenwärtig ist, desto leichter muß es uns werden, unsere Bühnen, je nachdem eine Vereinigung jener beiden Momente entweder gar nicht oder doch in sehr verschiedener Weise stattfindet, nach ihrem wahren Charakter von einander zu unterscheiden und in das richtige Rangverhältniß zu einander zu stellen. Eine Bühne, welche Kunst¬ bühne in dem Sinne wäre, daß von den Eigenschaften eines Volks-Theaters keine Spur an ihr übrig geblieben wäre, könnte nicht als eine Stätte wahrer Kunstpflege angesehen werden. Ihrer Kunst würde alle Gemeinverständlichkeit abgehen, sie würde nichts als ein sich vornehm spreizender Prunk mit Künsteleien sein, der sich vorgeblich an ein Publikum von Gebildeten und in ihrem Geschmack besonders wählerischen Leuten, in Wahrheit aber an Ver¬ bildete richten würde, die nur noch für raffinirte Reizmittel Geschmack hätten. Umgekehrt wäre ein Volkstheater ohne jede künstlerische Tendenz ein Ort gewöhnlichster Volksbelustigung, und es dürste wohl schwerlich ausbleiben, daß Roheit und Gemeinheit sehr bald Platz greifen würden. Eine Vereinigung beider Momente ist also geboten, und unerläßlich, wenn das Theater irgend¬ wie höheren Zwecken dienen und einigermaßen Werth haben soll. Je mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/251>, abgerufen am 26.06.2024.