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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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hat er alle Ursache, mit der Loyalität der gothaischen Volksvertreter zufrieden
zu sein.

Die Landtagsabgeordneten werden in Coburg-Gotha noch in alter Weise
durch Wahlmänner gewählt. Das ist hier zu Lande ein urgemüthlicheö
Verfahren, welches keine aufregenden Wählerversammlungen mit Programmen,
Wahlreden und Interpellationen kennt; in jedem kleinen Wahlkreise machen
15--47 Wahlmänner die Sache in vertraulicher Berathung ganz unter sich
ab, ohne Anhörung der Kandidaten. So bringen die Wahlen keine politische
Bewegung ins Land, keine öffentlichen Erörterungen über die inneren Zustände,
über die Licht- und Schattenseiten, Schwächen und Bedürfnisse des engeren
Heimatstaates. Daß sich ein solches System für unsere Landtagswahlen
überlebt hat, fühlt Jedermann; die Bevölkerung hat kein Verständniß dafür,
warum sie zu der particulären Landesvertretung von untergeordneter, provin-
zialer Bedeutung ihre Abgeordneten nicht selbst soll wählen können, während
man sie doch für reif hält zur directen Wahl eines Reichstagsabgeord¬
neten. Im vorigen Jahre, als die Zusammensetzung des gemeinschaftlichen
Landtags geändert und zugleich einige Wahlbezirke anders eingetheilt wurden,
lag es nahe, auch das Wahlverfahren zeitgemäß umzugestalten; bis jetzt
ist es uns ein ungelöstes Räthsel geblieben, warum die gute Gelegenheit ver¬
säumt wurde.

Ganz anders wie bei den Landtagswahlen rührt es sich in den Städten
und Dorfschaften, wenn eine Wahl zum Reichstag vor der Thüre steht;
da ist Leben und Kampf bis in die entlegenste Hütte. Zwar die schwarze
Schaar der Römlinge macht uns nichts zu schaffen; wenn es in dem pro¬
testantischen Thüringen überhaupt Ultramontane gibt, so ist ihre Zahl viel
zu winzig, um als Partei in die Schranken treten zu können. Dagegen hat
der unklare, die Leidenschaften der ungebildeten Menge aufstachelnde, dem ge¬
meinen Manne goldene Berge verheißende Socialismus auch bei uns solche
Fortschritte gemacht, daß seine Anhänger bei der Reichstagswahl von 1874
in Coburg nicht minder als in Gotha mit den Liberalen, die bis dahin das
Feld, fast allein inne hatten, den Kampf aufnehmen und nur durch das
einmüthige Zusammengehen aller reichstreu gesinnten Par¬
teien geschlagen werden konnten. Ob sie am nächsten Wahltage wieder
unterliegen werden? Diese Frage ist gleichbedeutend mit der anderen, ob es
abermals gelingen wird, alle Stimmen aus den verschiedenen Lagern des Li¬
beralismus auf einen gemeinsamen Kandidaten zu vereinigen. Wir sind weit
von der Anmaßung entfernt, den Propheten spielen zu wollen; aber wie uns
die Stimmung hüben und drüben bekannt ist, wird es wenigstens schwer
halten, den beiden jetzigen Abgeordneten noch einmal compacte Mehrheiten
zu verschaffen. Den Coburgern war der Berliner Stadtrath Weber, s"


hat er alle Ursache, mit der Loyalität der gothaischen Volksvertreter zufrieden
zu sein.

Die Landtagsabgeordneten werden in Coburg-Gotha noch in alter Weise
durch Wahlmänner gewählt. Das ist hier zu Lande ein urgemüthlicheö
Verfahren, welches keine aufregenden Wählerversammlungen mit Programmen,
Wahlreden und Interpellationen kennt; in jedem kleinen Wahlkreise machen
15—47 Wahlmänner die Sache in vertraulicher Berathung ganz unter sich
ab, ohne Anhörung der Kandidaten. So bringen die Wahlen keine politische
Bewegung ins Land, keine öffentlichen Erörterungen über die inneren Zustände,
über die Licht- und Schattenseiten, Schwächen und Bedürfnisse des engeren
Heimatstaates. Daß sich ein solches System für unsere Landtagswahlen
überlebt hat, fühlt Jedermann; die Bevölkerung hat kein Verständniß dafür,
warum sie zu der particulären Landesvertretung von untergeordneter, provin-
zialer Bedeutung ihre Abgeordneten nicht selbst soll wählen können, während
man sie doch für reif hält zur directen Wahl eines Reichstagsabgeord¬
neten. Im vorigen Jahre, als die Zusammensetzung des gemeinschaftlichen
Landtags geändert und zugleich einige Wahlbezirke anders eingetheilt wurden,
lag es nahe, auch das Wahlverfahren zeitgemäß umzugestalten; bis jetzt
ist es uns ein ungelöstes Räthsel geblieben, warum die gute Gelegenheit ver¬
säumt wurde.

Ganz anders wie bei den Landtagswahlen rührt es sich in den Städten
und Dorfschaften, wenn eine Wahl zum Reichstag vor der Thüre steht;
da ist Leben und Kampf bis in die entlegenste Hütte. Zwar die schwarze
Schaar der Römlinge macht uns nichts zu schaffen; wenn es in dem pro¬
testantischen Thüringen überhaupt Ultramontane gibt, so ist ihre Zahl viel
zu winzig, um als Partei in die Schranken treten zu können. Dagegen hat
der unklare, die Leidenschaften der ungebildeten Menge aufstachelnde, dem ge¬
meinen Manne goldene Berge verheißende Socialismus auch bei uns solche
Fortschritte gemacht, daß seine Anhänger bei der Reichstagswahl von 1874
in Coburg nicht minder als in Gotha mit den Liberalen, die bis dahin das
Feld, fast allein inne hatten, den Kampf aufnehmen und nur durch das
einmüthige Zusammengehen aller reichstreu gesinnten Par¬
teien geschlagen werden konnten. Ob sie am nächsten Wahltage wieder
unterliegen werden? Diese Frage ist gleichbedeutend mit der anderen, ob es
abermals gelingen wird, alle Stimmen aus den verschiedenen Lagern des Li¬
beralismus auf einen gemeinsamen Kandidaten zu vereinigen. Wir sind weit
von der Anmaßung entfernt, den Propheten spielen zu wollen; aber wie uns
die Stimmung hüben und drüben bekannt ist, wird es wenigstens schwer
halten, den beiden jetzigen Abgeordneten noch einmal compacte Mehrheiten
zu verschaffen. Den Coburgern war der Berliner Stadtrath Weber, s»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/163>, abgerufen am 29.06.2024.