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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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nackten Knaben auf Holbeins Madonna" -- 3. "Die blinden Hessen und ihre
Gevattern aus und mit dem Sprunggelenk etymologisch operirr"? Wenn ein
Advocat in Plagwitz bei Leipzig "Ueber den Ursprung der Begriffe", über
"das Wesen der Sinne" und über "die Grundelemente des Weltalls" schreibt?
Wenn ein stellvertretender Direktor einer Strickmaschinenfabrik eine drama¬
tische Dichtung "Kutschke in Nanzig und Dresden" und ein Bändchen Ge¬
dichte "Der Liebe Leid und Freude" veröffentlicht? Aber neben den viel¬
seitigsten sollen auch die fruchtbarsten nicht vergessen sein. Die beiden frucht¬
barsten "lebenden sächsischen Schriftsteller", die das Lexikon nennt, sind Herr
Dr. Petzholdt. Bibliothekar seiner Majestät des Königs, und der Geheime
Hofrath Prof. Reichenbach, beide in Dresden. Der erstere braucht zur Auf¬
zählung seiner "sämmtlichen" nahezu vier, der letztere sogar über fünf Seiten!
Da rede man noch von der Blüthe der Leipziger Universität!

Auf der andern Seite präsentirr sich freilich auch große Dürftigkeit und
Armseligkeit. Da hat z. B. ein Pfarrer 1871 bei der Rückkehr der Truppen
aus Frankreich ein "Willkommen unsern Kriegern" gedichtet und mit vier
schönen Bildern geziert für einen Silbergroschen in Druck ausgehen lassen, ein
anderer seine "Ansprache bei der Prämiirung von Dienstboten im Herlasgrüner
ökonomischen Verein" veröffentlicht, ein biedrer Schulmeister "Kurze Anstands-
regeln für die Dorfjugend" versaßt, ein andrer eine kleine Stilübung "Ueber
den Männergesang" oder "Ueber den Nutzen des naturwissenschaftlichen Unter¬
richts in der Schule" verfertigt und in irgend eine "Sängerhalle" oder eine
Lehrerzeitung zum Abdruck eingeschickt -- das nennt sich nun allerdings auch
"sächsischer Schriftsteller". Stehen solche Leistungen, wie es in den erwähnten
Beispielen der Fall ist, unter dem Namen ihres Verfassers nicht gänzlich iso¬
lier da, vereinigen sie sich mit andern Leistungen zu einer Art fortgesetzter
schriftstellerischer Thätigkeit, so mögen derartige Beiträge immer noch annehm¬
bar sein. Hat z. B. derselbe Herr, der die erwähnte "Ansprache an die Dienst¬
boten" gehalten, zwei Jahre später auch noch eine Predigt veröffentlicht:
"Wodurch unterscheiden sich die Kinder der Welt von den Kindern des Lichts
in ihrem Verhältniß zu den Mammonsgütern", so gewinnt man doch schon
eine Art literarisches Bild, man sieht wenigstens, daß der Versasser nicht
bloß "Ansprachen an Dienstboten" hält. Wie aber, wenn derartige Leistungen
gänzlich vereinzelt dastehen? Wenn ein Pfarrer auf der Gotteswelt weiter
gar nichts zu verzeichnen gewußt hat, als z. B. eine "Erklärung des von
L. von Bernewitz gezeichneten Panoramas von der Lausche bei Waltersdorf"
oder eine "Ansprache in der Diöcesanversammlung zu Löbau", ein Traetätchen
"Ueber Jünglingsvereine und Herbergen zur Heimath" oder einen Zuruf an
die christliche Kinderwelt und Jugend unter dem schönen Titel: "Befleißige
Euch der äußern Ehrbarkeit im kirchlichen Leben"; wenn einer nie in seinem


nackten Knaben auf Holbeins Madonna" — 3. „Die blinden Hessen und ihre
Gevattern aus und mit dem Sprunggelenk etymologisch operirr"? Wenn ein
Advocat in Plagwitz bei Leipzig „Ueber den Ursprung der Begriffe", über
„das Wesen der Sinne" und über „die Grundelemente des Weltalls" schreibt?
Wenn ein stellvertretender Direktor einer Strickmaschinenfabrik eine drama¬
tische Dichtung „Kutschke in Nanzig und Dresden" und ein Bändchen Ge¬
dichte „Der Liebe Leid und Freude" veröffentlicht? Aber neben den viel¬
seitigsten sollen auch die fruchtbarsten nicht vergessen sein. Die beiden frucht¬
barsten „lebenden sächsischen Schriftsteller", die das Lexikon nennt, sind Herr
Dr. Petzholdt. Bibliothekar seiner Majestät des Königs, und der Geheime
Hofrath Prof. Reichenbach, beide in Dresden. Der erstere braucht zur Auf¬
zählung seiner „sämmtlichen" nahezu vier, der letztere sogar über fünf Seiten!
Da rede man noch von der Blüthe der Leipziger Universität!

Auf der andern Seite präsentirr sich freilich auch große Dürftigkeit und
Armseligkeit. Da hat z. B. ein Pfarrer 1871 bei der Rückkehr der Truppen
aus Frankreich ein „Willkommen unsern Kriegern" gedichtet und mit vier
schönen Bildern geziert für einen Silbergroschen in Druck ausgehen lassen, ein
anderer seine „Ansprache bei der Prämiirung von Dienstboten im Herlasgrüner
ökonomischen Verein" veröffentlicht, ein biedrer Schulmeister „Kurze Anstands-
regeln für die Dorfjugend" versaßt, ein andrer eine kleine Stilübung „Ueber
den Männergesang" oder „Ueber den Nutzen des naturwissenschaftlichen Unter¬
richts in der Schule" verfertigt und in irgend eine „Sängerhalle" oder eine
Lehrerzeitung zum Abdruck eingeschickt — das nennt sich nun allerdings auch
„sächsischer Schriftsteller". Stehen solche Leistungen, wie es in den erwähnten
Beispielen der Fall ist, unter dem Namen ihres Verfassers nicht gänzlich iso¬
lier da, vereinigen sie sich mit andern Leistungen zu einer Art fortgesetzter
schriftstellerischer Thätigkeit, so mögen derartige Beiträge immer noch annehm¬
bar sein. Hat z. B. derselbe Herr, der die erwähnte „Ansprache an die Dienst¬
boten" gehalten, zwei Jahre später auch noch eine Predigt veröffentlicht:
„Wodurch unterscheiden sich die Kinder der Welt von den Kindern des Lichts
in ihrem Verhältniß zu den Mammonsgütern", so gewinnt man doch schon
eine Art literarisches Bild, man sieht wenigstens, daß der Versasser nicht
bloß „Ansprachen an Dienstboten" hält. Wie aber, wenn derartige Leistungen
gänzlich vereinzelt dastehen? Wenn ein Pfarrer auf der Gotteswelt weiter
gar nichts zu verzeichnen gewußt hat, als z. B. eine „Erklärung des von
L. von Bernewitz gezeichneten Panoramas von der Lausche bei Waltersdorf"
oder eine „Ansprache in der Diöcesanversammlung zu Löbau", ein Traetätchen
„Ueber Jünglingsvereine und Herbergen zur Heimath" oder einen Zuruf an
die christliche Kinderwelt und Jugend unter dem schönen Titel: „Befleißige
Euch der äußern Ehrbarkeit im kirchlichen Leben"; wenn einer nie in seinem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/135>, abgerufen am 28.06.2024.