Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

niemals aber des Lobes oder der Bewunderung der Betreffenden durch die
Mit-oder Nachwelt gedacht.

Die französischen Schriftsteller haben fast alle die Renaissance auf Kosten
der Reformation erhoben, weil jene von weiterem Blicke gewesen sei und der
Menschheit eine vollständigere Befreiung gebracht habe. Die Thatsachen
geben ihnen hierin nicht Recht. Die Länder, welche sich der Reformation
angeschlossen haben, überholen ganz offenbar die, welche sich an die Renaissance
hielten, weil die Reformation eine sittliche Kraft hat, die der Renaissance fehlt.
Nun aber ist die sittliche Kraft neben dem Wissen die zweite Grundquelle der
Wohlfahrt der Völker. Die Renaissance war eine Rückkehr in das Alterthum,
die Reformation eine Rückkehr zum Evangelium, und da da^ Evangelium
besser war als die Ueberlieferung aus dem Alterthume, so mußte es auch bessere
Früchte geben.

Die Reformation hat den Fortschritt der Völker, die sich ihr anschlössen,
dadurch begünstigt, daß sie ihnen freisinnige Einrichtungen zu treffen gestattete,
während der Katholicismus zum Despotismus oder zur Anarchie oder zu
einem fortwährenden Wechsel beider führt. Die natürliche Negierung der
protestantischen Völker ist die repräsentative, die congeniale Negierung der
katholischen Völker ist die despotische. So lange sie sich unterwerfen, bleiben
sie in Ruhe, sie haben das Regime das ihnen gebührt; so bald sie sich aber zu
befreien streben, verfallen sie der Unordnung und schwächen sich; sie befinden
sich dann in einem unnatürlichen Zustande. So behaupten "Univers" und
"Civilta CatMica", und die Thatsachen scheinen ihnen Recht zu geben.

Man hat sich oft gefragt, warum die Revolutionen in den Niederlanden
in England und in Nordamerika gelungen sind, während die in Frankreich
schließlich gescheitert ist. Unser Essayist zögert nicht, zu antworten: weil jene
in protestantischen Ländern stattfanden, diese aber in einem katholischen Lande,
und er hat damit wohl nicht Unrecht; denn Spanien hat ebenso wenig ver¬
mocht, sich aus dem steten Schwanken zwischen Despotie und Anarchie heraus
zu helfen. Schon Voltaire hat das anerkannt. Er fragt sich, wie es kommt,
daß die Regierungen von Frankreich und England sich so verschieden gestaltet
haben, wie die von Marokko und Venedig. "Ist es", sagt er, "nicht aus
dem Grunde, "weil die Engländer, stets über Rom klagend, das schändliche
Joch endlich abgeschüttelt haben, während ein leichtfinnigeres Volk es weiter
getragen hat, indem es that, als lache es darüber und tanze mit seinen
Ketten?" Voltaire sprach die Wahrheit, aber war er's denn nicht, der zu
diesem Lachen anreizte und zum Tanze aufspielte?

Heutzutage sehen wir deutlich, was scharfsinnige Leute im achtzehnten
Jahrhundert nur ahnten. Die Wirkung, welche die Religion auf die Men¬
schen ausübt, ist eine so tiefe, daß sie der Organisation des Staates stets


niemals aber des Lobes oder der Bewunderung der Betreffenden durch die
Mit-oder Nachwelt gedacht.

Die französischen Schriftsteller haben fast alle die Renaissance auf Kosten
der Reformation erhoben, weil jene von weiterem Blicke gewesen sei und der
Menschheit eine vollständigere Befreiung gebracht habe. Die Thatsachen
geben ihnen hierin nicht Recht. Die Länder, welche sich der Reformation
angeschlossen haben, überholen ganz offenbar die, welche sich an die Renaissance
hielten, weil die Reformation eine sittliche Kraft hat, die der Renaissance fehlt.
Nun aber ist die sittliche Kraft neben dem Wissen die zweite Grundquelle der
Wohlfahrt der Völker. Die Renaissance war eine Rückkehr in das Alterthum,
die Reformation eine Rückkehr zum Evangelium, und da da^ Evangelium
besser war als die Ueberlieferung aus dem Alterthume, so mußte es auch bessere
Früchte geben.

Die Reformation hat den Fortschritt der Völker, die sich ihr anschlössen,
dadurch begünstigt, daß sie ihnen freisinnige Einrichtungen zu treffen gestattete,
während der Katholicismus zum Despotismus oder zur Anarchie oder zu
einem fortwährenden Wechsel beider führt. Die natürliche Negierung der
protestantischen Völker ist die repräsentative, die congeniale Negierung der
katholischen Völker ist die despotische. So lange sie sich unterwerfen, bleiben
sie in Ruhe, sie haben das Regime das ihnen gebührt; so bald sie sich aber zu
befreien streben, verfallen sie der Unordnung und schwächen sich; sie befinden
sich dann in einem unnatürlichen Zustande. So behaupten „Univers" und
„Civilta CatMica", und die Thatsachen scheinen ihnen Recht zu geben.

Man hat sich oft gefragt, warum die Revolutionen in den Niederlanden
in England und in Nordamerika gelungen sind, während die in Frankreich
schließlich gescheitert ist. Unser Essayist zögert nicht, zu antworten: weil jene
in protestantischen Ländern stattfanden, diese aber in einem katholischen Lande,
und er hat damit wohl nicht Unrecht; denn Spanien hat ebenso wenig ver¬
mocht, sich aus dem steten Schwanken zwischen Despotie und Anarchie heraus
zu helfen. Schon Voltaire hat das anerkannt. Er fragt sich, wie es kommt,
daß die Regierungen von Frankreich und England sich so verschieden gestaltet
haben, wie die von Marokko und Venedig. „Ist es", sagt er, „nicht aus
dem Grunde, „weil die Engländer, stets über Rom klagend, das schändliche
Joch endlich abgeschüttelt haben, während ein leichtfinnigeres Volk es weiter
getragen hat, indem es that, als lache es darüber und tanze mit seinen
Ketten?" Voltaire sprach die Wahrheit, aber war er's denn nicht, der zu
diesem Lachen anreizte und zum Tanze aufspielte?

Heutzutage sehen wir deutlich, was scharfsinnige Leute im achtzehnten
Jahrhundert nur ahnten. Die Wirkung, welche die Religion auf die Men¬
schen ausübt, ist eine so tiefe, daß sie der Organisation des Staates stets


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0054" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/134400"/>
          <p xml:id="ID_120" prev="#ID_119"> niemals aber des Lobes oder der Bewunderung der Betreffenden durch die<lb/>
Mit-oder Nachwelt gedacht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_121"> Die französischen Schriftsteller haben fast alle die Renaissance auf Kosten<lb/>
der Reformation erhoben, weil jene von weiterem Blicke gewesen sei und der<lb/>
Menschheit eine vollständigere Befreiung gebracht habe. Die Thatsachen<lb/>
geben ihnen hierin nicht Recht. Die Länder, welche sich der Reformation<lb/>
angeschlossen haben, überholen ganz offenbar die, welche sich an die Renaissance<lb/>
hielten, weil die Reformation eine sittliche Kraft hat, die der Renaissance fehlt.<lb/>
Nun aber ist die sittliche Kraft neben dem Wissen die zweite Grundquelle der<lb/>
Wohlfahrt der Völker. Die Renaissance war eine Rückkehr in das Alterthum,<lb/>
die Reformation eine Rückkehr zum Evangelium, und da da^ Evangelium<lb/>
besser war als die Ueberlieferung aus dem Alterthume, so mußte es auch bessere<lb/>
Früchte geben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_122"> Die Reformation hat den Fortschritt der Völker, die sich ihr anschlössen,<lb/>
dadurch begünstigt, daß sie ihnen freisinnige Einrichtungen zu treffen gestattete,<lb/>
während der Katholicismus zum Despotismus oder zur Anarchie oder zu<lb/>
einem fortwährenden Wechsel beider führt. Die natürliche Negierung der<lb/>
protestantischen Völker ist die repräsentative, die congeniale Negierung der<lb/>
katholischen Völker ist die despotische. So lange sie sich unterwerfen, bleiben<lb/>
sie in Ruhe, sie haben das Regime das ihnen gebührt; so bald sie sich aber zu<lb/>
befreien streben, verfallen sie der Unordnung und schwächen sich; sie befinden<lb/>
sich dann in einem unnatürlichen Zustande. So behaupten &#x201E;Univers" und<lb/>
&#x201E;Civilta CatMica", und die Thatsachen scheinen ihnen Recht zu geben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_123"> Man hat sich oft gefragt, warum die Revolutionen in den Niederlanden<lb/>
in England und in Nordamerika gelungen sind, während die in Frankreich<lb/>
schließlich gescheitert ist. Unser Essayist zögert nicht, zu antworten: weil jene<lb/>
in protestantischen Ländern stattfanden, diese aber in einem katholischen Lande,<lb/>
und er hat damit wohl nicht Unrecht; denn Spanien hat ebenso wenig ver¬<lb/>
mocht, sich aus dem steten Schwanken zwischen Despotie und Anarchie heraus<lb/>
zu helfen. Schon Voltaire hat das anerkannt. Er fragt sich, wie es kommt,<lb/>
daß die Regierungen von Frankreich und England sich so verschieden gestaltet<lb/>
haben, wie die von Marokko und Venedig. &#x201E;Ist es", sagt er, &#x201E;nicht aus<lb/>
dem Grunde, &#x201E;weil die Engländer, stets über Rom klagend, das schändliche<lb/>
Joch endlich abgeschüttelt haben, während ein leichtfinnigeres Volk es weiter<lb/>
getragen hat, indem es that, als lache es darüber und tanze mit seinen<lb/>
Ketten?" Voltaire sprach die Wahrheit, aber war er's denn nicht, der zu<lb/>
diesem Lachen anreizte und zum Tanze aufspielte?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_124" next="#ID_125"> Heutzutage sehen wir deutlich, was scharfsinnige Leute im achtzehnten<lb/>
Jahrhundert nur ahnten. Die Wirkung, welche die Religion auf die Men¬<lb/>
schen ausübt, ist eine so tiefe, daß sie der Organisation des Staates stets</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0054] niemals aber des Lobes oder der Bewunderung der Betreffenden durch die Mit-oder Nachwelt gedacht. Die französischen Schriftsteller haben fast alle die Renaissance auf Kosten der Reformation erhoben, weil jene von weiterem Blicke gewesen sei und der Menschheit eine vollständigere Befreiung gebracht habe. Die Thatsachen geben ihnen hierin nicht Recht. Die Länder, welche sich der Reformation angeschlossen haben, überholen ganz offenbar die, welche sich an die Renaissance hielten, weil die Reformation eine sittliche Kraft hat, die der Renaissance fehlt. Nun aber ist die sittliche Kraft neben dem Wissen die zweite Grundquelle der Wohlfahrt der Völker. Die Renaissance war eine Rückkehr in das Alterthum, die Reformation eine Rückkehr zum Evangelium, und da da^ Evangelium besser war als die Ueberlieferung aus dem Alterthume, so mußte es auch bessere Früchte geben. Die Reformation hat den Fortschritt der Völker, die sich ihr anschlössen, dadurch begünstigt, daß sie ihnen freisinnige Einrichtungen zu treffen gestattete, während der Katholicismus zum Despotismus oder zur Anarchie oder zu einem fortwährenden Wechsel beider führt. Die natürliche Negierung der protestantischen Völker ist die repräsentative, die congeniale Negierung der katholischen Völker ist die despotische. So lange sie sich unterwerfen, bleiben sie in Ruhe, sie haben das Regime das ihnen gebührt; so bald sie sich aber zu befreien streben, verfallen sie der Unordnung und schwächen sich; sie befinden sich dann in einem unnatürlichen Zustande. So behaupten „Univers" und „Civilta CatMica", und die Thatsachen scheinen ihnen Recht zu geben. Man hat sich oft gefragt, warum die Revolutionen in den Niederlanden in England und in Nordamerika gelungen sind, während die in Frankreich schließlich gescheitert ist. Unser Essayist zögert nicht, zu antworten: weil jene in protestantischen Ländern stattfanden, diese aber in einem katholischen Lande, und er hat damit wohl nicht Unrecht; denn Spanien hat ebenso wenig ver¬ mocht, sich aus dem steten Schwanken zwischen Despotie und Anarchie heraus zu helfen. Schon Voltaire hat das anerkannt. Er fragt sich, wie es kommt, daß die Regierungen von Frankreich und England sich so verschieden gestaltet haben, wie die von Marokko und Venedig. „Ist es", sagt er, „nicht aus dem Grunde, „weil die Engländer, stets über Rom klagend, das schändliche Joch endlich abgeschüttelt haben, während ein leichtfinnigeres Volk es weiter getragen hat, indem es that, als lache es darüber und tanze mit seinen Ketten?" Voltaire sprach die Wahrheit, aber war er's denn nicht, der zu diesem Lachen anreizte und zum Tanze aufspielte? Heutzutage sehen wir deutlich, was scharfsinnige Leute im achtzehnten Jahrhundert nur ahnten. Die Wirkung, welche die Religion auf die Men¬ schen ausübt, ist eine so tiefe, daß sie der Organisation des Staates stets

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/54
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/54>, abgerufen am 01.07.2024.