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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Philosophie eines Vergniaud oder Mirabeau. Wo das religiöse Gefühl, der
Wunsch, Gott im Himmel oder Gott im Gewissen zu gefallen, sich abschwächt,
bleibt als ein einziger Antrieb zum Guthandeln der Ehrenpunkt, der Wunsch,
den Menschen zu gefallen. So steht es in Frankreich. Hier ist, wie Taine
in seinen "Notes sur I'^ug-lLtori-L" hervorhebt, die Sittlichkeit rein auf die
Ehrliebe gegründet, in England dagegen auf das Pflichtgefühl. In der
"l^Areo iwuvello" schreibt Prevost: "In den Augen jedes klarblickender Be¬
obachters bietet unser Land jetzt das in der Welt beinahe einzige Schauspiel
einer Menschengemeinschaft dar, in welcher der Ehrenpunkt die Hauptbürg¬
schaft der Ordnung geworden ist und die meisten Pflichten erfüllen, die meisten
Opfer bringen läßt, welche Religion und Patriotismus aufzuerlegen nicht
mehr die Macht haben. Wenn unsere Gesetze geachtet werden, wenn der junge
Soldat geduldig seiner Fahne folgt und ihr treu bleibt, wenn der Einnehmer
nicht in die öffentliche Kasse greift, kurz, wenn der Franzose sich gebührend
seiner Schuldigkeit gegen den Staat und seine Mitbürger entledigt, so haben
wir dieß vor Allem dem Ehrenpunkte zuzuschreiben. Es ist nicht die Achtung
vor dem göttlichen Gesetze , das lange schon zum Problem herabgesunken ist.
Es ist nicht die philosophische Hingebung an eine unbestimmte Pflicht und
noch weniger an das abstracte, durch so viele Revolutionen auf den Kopf
gestellte und discreditirte Wesen, das sich Staat nennt; es ist einzig und
allein die Furcht, öffentlich über eine Handlung, die für unehrenhaft gilt, er¬
böthen zu müssen, wenn heutzutage unter uns noch in genügender Stärke der
Wunsch vorhanden ist, gut zu handeln. Ach, Nichts als den Ehrenpunkt zur
Stütze zu haben und zu fühlen, wie er unter unserer Hand schwankt gleich
dem zerbrechlichen Rohr, von dem die Schrift spricht!"

Man lese die Proclamationen an das Volk und die Armee: wenn man
sie fortreißen, ihre Begeisterung erwecken will, so wendet man sich an ihren
Ehrgeiz, an ihre Eitelkeit. So ruft Napoleon dem Heere in Aegypten zu:
"Von der Höhe der Pyramiden blicken vierzig Jahrhunderte auf euch herab."
So sagt er ihnen anderswo: "Soldaten, an euren Herd zurückgekehrt, könnt
'hr sagen: ich war mit bei Jena, bei Austerlitz." Von sich reden oder Andere
"on sich reden machen, ist hier der Zweck und Beweggrund der Pflichterfüllung.
Nelson dagegen sagte vor Trafalgar ganz einfach: "Das Land erwartet, daß
jedermann seine Pflicht thun wird." Ebenso stellten sich die Führer der
Preußen 1870 zu ihren Truppen: sie setzten in ihnen Soldaten voraus, von
denen jeder -- wie Graf Bismarck uns zu Schloß Ferneres in einer merk¬
würdigen Tischrede erklärte, "seine Schuldigkeit that, auch wo ihn der Lieut-
nant nicht sah." I" den Ausrufen der Revolutionsmänner der Niederlande
und Nordamerikas wird der Vaterlandsliebe, der Pflicht des göttlichen Gebotes,


Grenzboten IV. 1875, 7

Philosophie eines Vergniaud oder Mirabeau. Wo das religiöse Gefühl, der
Wunsch, Gott im Himmel oder Gott im Gewissen zu gefallen, sich abschwächt,
bleibt als ein einziger Antrieb zum Guthandeln der Ehrenpunkt, der Wunsch,
den Menschen zu gefallen. So steht es in Frankreich. Hier ist, wie Taine
in seinen „Notes sur I'^ug-lLtori-L" hervorhebt, die Sittlichkeit rein auf die
Ehrliebe gegründet, in England dagegen auf das Pflichtgefühl. In der
»l^Areo iwuvello" schreibt Prevost: „In den Augen jedes klarblickender Be¬
obachters bietet unser Land jetzt das in der Welt beinahe einzige Schauspiel
einer Menschengemeinschaft dar, in welcher der Ehrenpunkt die Hauptbürg¬
schaft der Ordnung geworden ist und die meisten Pflichten erfüllen, die meisten
Opfer bringen läßt, welche Religion und Patriotismus aufzuerlegen nicht
mehr die Macht haben. Wenn unsere Gesetze geachtet werden, wenn der junge
Soldat geduldig seiner Fahne folgt und ihr treu bleibt, wenn der Einnehmer
nicht in die öffentliche Kasse greift, kurz, wenn der Franzose sich gebührend
seiner Schuldigkeit gegen den Staat und seine Mitbürger entledigt, so haben
wir dieß vor Allem dem Ehrenpunkte zuzuschreiben. Es ist nicht die Achtung
vor dem göttlichen Gesetze , das lange schon zum Problem herabgesunken ist.
Es ist nicht die philosophische Hingebung an eine unbestimmte Pflicht und
noch weniger an das abstracte, durch so viele Revolutionen auf den Kopf
gestellte und discreditirte Wesen, das sich Staat nennt; es ist einzig und
allein die Furcht, öffentlich über eine Handlung, die für unehrenhaft gilt, er¬
böthen zu müssen, wenn heutzutage unter uns noch in genügender Stärke der
Wunsch vorhanden ist, gut zu handeln. Ach, Nichts als den Ehrenpunkt zur
Stütze zu haben und zu fühlen, wie er unter unserer Hand schwankt gleich
dem zerbrechlichen Rohr, von dem die Schrift spricht!"

Man lese die Proclamationen an das Volk und die Armee: wenn man
sie fortreißen, ihre Begeisterung erwecken will, so wendet man sich an ihren
Ehrgeiz, an ihre Eitelkeit. So ruft Napoleon dem Heere in Aegypten zu:
»Von der Höhe der Pyramiden blicken vierzig Jahrhunderte auf euch herab."
So sagt er ihnen anderswo: „Soldaten, an euren Herd zurückgekehrt, könnt
'hr sagen: ich war mit bei Jena, bei Austerlitz." Von sich reden oder Andere
"on sich reden machen, ist hier der Zweck und Beweggrund der Pflichterfüllung.
Nelson dagegen sagte vor Trafalgar ganz einfach: „Das Land erwartet, daß
jedermann seine Pflicht thun wird." Ebenso stellten sich die Führer der
Preußen 1870 zu ihren Truppen: sie setzten in ihnen Soldaten voraus, von
denen jeder — wie Graf Bismarck uns zu Schloß Ferneres in einer merk¬
würdigen Tischrede erklärte, „seine Schuldigkeit that, auch wo ihn der Lieut-
nant nicht sah." I« den Ausrufen der Revolutionsmänner der Niederlande
und Nordamerikas wird der Vaterlandsliebe, der Pflicht des göttlichen Gebotes,


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[0053] Philosophie eines Vergniaud oder Mirabeau. Wo das religiöse Gefühl, der Wunsch, Gott im Himmel oder Gott im Gewissen zu gefallen, sich abschwächt, bleibt als ein einziger Antrieb zum Guthandeln der Ehrenpunkt, der Wunsch, den Menschen zu gefallen. So steht es in Frankreich. Hier ist, wie Taine in seinen „Notes sur I'^ug-lLtori-L" hervorhebt, die Sittlichkeit rein auf die Ehrliebe gegründet, in England dagegen auf das Pflichtgefühl. In der »l^Areo iwuvello" schreibt Prevost: „In den Augen jedes klarblickender Be¬ obachters bietet unser Land jetzt das in der Welt beinahe einzige Schauspiel einer Menschengemeinschaft dar, in welcher der Ehrenpunkt die Hauptbürg¬ schaft der Ordnung geworden ist und die meisten Pflichten erfüllen, die meisten Opfer bringen läßt, welche Religion und Patriotismus aufzuerlegen nicht mehr die Macht haben. Wenn unsere Gesetze geachtet werden, wenn der junge Soldat geduldig seiner Fahne folgt und ihr treu bleibt, wenn der Einnehmer nicht in die öffentliche Kasse greift, kurz, wenn der Franzose sich gebührend seiner Schuldigkeit gegen den Staat und seine Mitbürger entledigt, so haben wir dieß vor Allem dem Ehrenpunkte zuzuschreiben. Es ist nicht die Achtung vor dem göttlichen Gesetze , das lange schon zum Problem herabgesunken ist. Es ist nicht die philosophische Hingebung an eine unbestimmte Pflicht und noch weniger an das abstracte, durch so viele Revolutionen auf den Kopf gestellte und discreditirte Wesen, das sich Staat nennt; es ist einzig und allein die Furcht, öffentlich über eine Handlung, die für unehrenhaft gilt, er¬ böthen zu müssen, wenn heutzutage unter uns noch in genügender Stärke der Wunsch vorhanden ist, gut zu handeln. Ach, Nichts als den Ehrenpunkt zur Stütze zu haben und zu fühlen, wie er unter unserer Hand schwankt gleich dem zerbrechlichen Rohr, von dem die Schrift spricht!" Man lese die Proclamationen an das Volk und die Armee: wenn man sie fortreißen, ihre Begeisterung erwecken will, so wendet man sich an ihren Ehrgeiz, an ihre Eitelkeit. So ruft Napoleon dem Heere in Aegypten zu: »Von der Höhe der Pyramiden blicken vierzig Jahrhunderte auf euch herab." So sagt er ihnen anderswo: „Soldaten, an euren Herd zurückgekehrt, könnt 'hr sagen: ich war mit bei Jena, bei Austerlitz." Von sich reden oder Andere "on sich reden machen, ist hier der Zweck und Beweggrund der Pflichterfüllung. Nelson dagegen sagte vor Trafalgar ganz einfach: „Das Land erwartet, daß jedermann seine Pflicht thun wird." Ebenso stellten sich die Führer der Preußen 1870 zu ihren Truppen: sie setzten in ihnen Soldaten voraus, von denen jeder — wie Graf Bismarck uns zu Schloß Ferneres in einer merk¬ würdigen Tischrede erklärte, „seine Schuldigkeit that, auch wo ihn der Lieut- nant nicht sah." I« den Ausrufen der Revolutionsmänner der Niederlande und Nordamerikas wird der Vaterlandsliebe, der Pflicht des göttlichen Gebotes, Grenzboten IV. 1875, 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/53>, abgerufen am 29.06.2024.