Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

daß man ein reineres und strengeres Christenthum, daß man gegenüber den
Zaubermitteln der Sacramente das Heil predigt, das aus dem reinen Ge¬
wissen quillt, andrerseits, aber dadurch, daß man dabei ihre Dogmen mit
Ironie behandelt und die Sinne gegen ihre Moralvorschriften ins Feld führt.
Luther, Calvin und Knox haben jenen, Rabelais und Voltaire diesen Weg
eingeschlagen. Es ist aber klar, daß die Einen das sittliche Gefühl stärken,
die Anderen dasselbe schwächen mußten. Daher kommt, daß fast alle französischen
Schriftsteller, die an der Befreiung der Geister von Rom arbeiteten, einen
mehr oder minder unsittlichen Zug an sich haben. Diejenigen aber, welche
die Moral achten, und die man daher der Jugend in die Hände geben kann,
Bossuet, Fenelon, Racine z. B. fast immer der Kirche ergeben und von ab¬
solutistischen Lehren durchdrungen sind. In England und Amerika verhält
sieh's hierin anders: die entschiedensten Freunde der Freiheit sind hier zugleich
die, welche es mit der Moral am strengsten nehmen. Während Bossuet die
Theorie des Absolutismus formulirte, schrieb Milton die der Republik nieder.
Man sehe davon die Folgen. Man vergleiche das Privatleben der Männer,
die 1K48 die englische Revolution herbeiführten, und derer, die später die nord¬
amerikanische Republik gründeten, mit dem derjenigen, welche 1789 in Frank¬
reich dieDauptrollen spielten. Jene sind durchgehends rechtschaffne Leute von
fleckenloser Sitte, diese dagegen, von einigen Fanatikern wie Se. Just und
Robespierre abgesehen, äußerst lockere und lüderliche Gesellen. Der bedeu¬
tendste unter ihnen, der geniale Mirabeau, dieser eigentlichste Vertreter der
französischen Revolution, verkauft sich dem Hofe, schreibt obscöne Bücher und
treibt seine Ausschweifungen bis zu den letzten Grenzen. Edgar Quinet
bemerkt in seinem Buche über die französische Revolution, daß die Männer
dieser Epoche, anfangs so voll Begeisterung, so bald in ihren Anstrengungen
ermüdeten und die Ruhe der Knechtschaft unter dem Kaiserreiche verlangten
oder sie sich doch gefallen ließen. Die Gueusen Hollands haben länger ge¬
kämpft und ohne sich entmuthigen zu lassen schwerere Prüfungen durchgemacht.
Ihre Städte wurden erstürmt, ganze Bevölkerungen niedergemetzelt, sie stritten
fort, eine Handvoll Menschen, gegen eine Weltmacht, sie fühlten weder Er¬
schlaffung noch Entmuthigung, und sie errangen endlich den Sieg -- sie hatten
den Glauben.

Der Stolz, der Ehrgeiz, die Eitelkeit waren Hauptbeweggründe bei den
hervorragenden Geistern der französischen Revolution, sie brachten einander um
statt sich zur Gründung der Republik zu vereinigen. In Holland, in England,
in Amerika kannte man diese Motive nicht; demüthig, anspruchslos, verstän¬
digten sich die Männer, die ihr Vaterland von der Tyrannei befreit hatten,
zur Befestigung ihres Werkes. Zur Begründung eines Staatswesens lieferte
der bescheidene, selbstlose Sinn eines Washington einen besseren Mörtel als die


daß man ein reineres und strengeres Christenthum, daß man gegenüber den
Zaubermitteln der Sacramente das Heil predigt, das aus dem reinen Ge¬
wissen quillt, andrerseits, aber dadurch, daß man dabei ihre Dogmen mit
Ironie behandelt und die Sinne gegen ihre Moralvorschriften ins Feld führt.
Luther, Calvin und Knox haben jenen, Rabelais und Voltaire diesen Weg
eingeschlagen. Es ist aber klar, daß die Einen das sittliche Gefühl stärken,
die Anderen dasselbe schwächen mußten. Daher kommt, daß fast alle französischen
Schriftsteller, die an der Befreiung der Geister von Rom arbeiteten, einen
mehr oder minder unsittlichen Zug an sich haben. Diejenigen aber, welche
die Moral achten, und die man daher der Jugend in die Hände geben kann,
Bossuet, Fenelon, Racine z. B. fast immer der Kirche ergeben und von ab¬
solutistischen Lehren durchdrungen sind. In England und Amerika verhält
sieh's hierin anders: die entschiedensten Freunde der Freiheit sind hier zugleich
die, welche es mit der Moral am strengsten nehmen. Während Bossuet die
Theorie des Absolutismus formulirte, schrieb Milton die der Republik nieder.
Man sehe davon die Folgen. Man vergleiche das Privatleben der Männer,
die 1K48 die englische Revolution herbeiführten, und derer, die später die nord¬
amerikanische Republik gründeten, mit dem derjenigen, welche 1789 in Frank¬
reich dieDauptrollen spielten. Jene sind durchgehends rechtschaffne Leute von
fleckenloser Sitte, diese dagegen, von einigen Fanatikern wie Se. Just und
Robespierre abgesehen, äußerst lockere und lüderliche Gesellen. Der bedeu¬
tendste unter ihnen, der geniale Mirabeau, dieser eigentlichste Vertreter der
französischen Revolution, verkauft sich dem Hofe, schreibt obscöne Bücher und
treibt seine Ausschweifungen bis zu den letzten Grenzen. Edgar Quinet
bemerkt in seinem Buche über die französische Revolution, daß die Männer
dieser Epoche, anfangs so voll Begeisterung, so bald in ihren Anstrengungen
ermüdeten und die Ruhe der Knechtschaft unter dem Kaiserreiche verlangten
oder sie sich doch gefallen ließen. Die Gueusen Hollands haben länger ge¬
kämpft und ohne sich entmuthigen zu lassen schwerere Prüfungen durchgemacht.
Ihre Städte wurden erstürmt, ganze Bevölkerungen niedergemetzelt, sie stritten
fort, eine Handvoll Menschen, gegen eine Weltmacht, sie fühlten weder Er¬
schlaffung noch Entmuthigung, und sie errangen endlich den Sieg — sie hatten
den Glauben.

Der Stolz, der Ehrgeiz, die Eitelkeit waren Hauptbeweggründe bei den
hervorragenden Geistern der französischen Revolution, sie brachten einander um
statt sich zur Gründung der Republik zu vereinigen. In Holland, in England,
in Amerika kannte man diese Motive nicht; demüthig, anspruchslos, verstän¬
digten sich die Männer, die ihr Vaterland von der Tyrannei befreit hatten,
zur Befestigung ihres Werkes. Zur Begründung eines Staatswesens lieferte
der bescheidene, selbstlose Sinn eines Washington einen besseren Mörtel als die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0052" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/134398"/>
          <p xml:id="ID_116" prev="#ID_115"> daß man ein reineres und strengeres Christenthum, daß man gegenüber den<lb/>
Zaubermitteln der Sacramente das Heil predigt, das aus dem reinen Ge¬<lb/>
wissen quillt, andrerseits, aber dadurch, daß man dabei ihre Dogmen mit<lb/>
Ironie behandelt und die Sinne gegen ihre Moralvorschriften ins Feld führt.<lb/>
Luther, Calvin und Knox haben jenen, Rabelais und Voltaire diesen Weg<lb/>
eingeschlagen. Es ist aber klar, daß die Einen das sittliche Gefühl stärken,<lb/>
die Anderen dasselbe schwächen mußten. Daher kommt, daß fast alle französischen<lb/>
Schriftsteller, die an der Befreiung der Geister von Rom arbeiteten, einen<lb/>
mehr oder minder unsittlichen Zug an sich haben. Diejenigen aber, welche<lb/>
die Moral achten, und die man daher der Jugend in die Hände geben kann,<lb/>
Bossuet, Fenelon, Racine z. B. fast immer der Kirche ergeben und von ab¬<lb/>
solutistischen Lehren durchdrungen sind. In England und Amerika verhält<lb/>
sieh's hierin anders: die entschiedensten Freunde der Freiheit sind hier zugleich<lb/>
die, welche es mit der Moral am strengsten nehmen. Während Bossuet die<lb/>
Theorie des Absolutismus formulirte, schrieb Milton die der Republik nieder.<lb/>
Man sehe davon die Folgen. Man vergleiche das Privatleben der Männer,<lb/>
die 1K48 die englische Revolution herbeiführten, und derer, die später die nord¬<lb/>
amerikanische Republik gründeten, mit dem derjenigen, welche 1789 in Frank¬<lb/>
reich dieDauptrollen spielten. Jene sind durchgehends rechtschaffne Leute von<lb/>
fleckenloser Sitte, diese dagegen, von einigen Fanatikern wie Se. Just und<lb/>
Robespierre abgesehen, äußerst lockere und lüderliche Gesellen. Der bedeu¬<lb/>
tendste unter ihnen, der geniale Mirabeau, dieser eigentlichste Vertreter der<lb/>
französischen Revolution, verkauft sich dem Hofe, schreibt obscöne Bücher und<lb/>
treibt seine Ausschweifungen bis zu den letzten Grenzen. Edgar Quinet<lb/>
bemerkt in seinem Buche über die französische Revolution, daß die Männer<lb/>
dieser Epoche, anfangs so voll Begeisterung, so bald in ihren Anstrengungen<lb/>
ermüdeten und die Ruhe der Knechtschaft unter dem Kaiserreiche verlangten<lb/>
oder sie sich doch gefallen ließen. Die Gueusen Hollands haben länger ge¬<lb/>
kämpft und ohne sich entmuthigen zu lassen schwerere Prüfungen durchgemacht.<lb/>
Ihre Städte wurden erstürmt, ganze Bevölkerungen niedergemetzelt, sie stritten<lb/>
fort, eine Handvoll Menschen, gegen eine Weltmacht, sie fühlten weder Er¬<lb/>
schlaffung noch Entmuthigung, und sie errangen endlich den Sieg &#x2014; sie hatten<lb/>
den Glauben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_117" next="#ID_118"> Der Stolz, der Ehrgeiz, die Eitelkeit waren Hauptbeweggründe bei den<lb/>
hervorragenden Geistern der französischen Revolution, sie brachten einander um<lb/>
statt sich zur Gründung der Republik zu vereinigen. In Holland, in England,<lb/>
in Amerika kannte man diese Motive nicht; demüthig, anspruchslos, verstän¬<lb/>
digten sich die Männer, die ihr Vaterland von der Tyrannei befreit hatten,<lb/>
zur Befestigung ihres Werkes. Zur Begründung eines Staatswesens lieferte<lb/>
der bescheidene, selbstlose Sinn eines Washington einen besseren Mörtel als die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0052] daß man ein reineres und strengeres Christenthum, daß man gegenüber den Zaubermitteln der Sacramente das Heil predigt, das aus dem reinen Ge¬ wissen quillt, andrerseits, aber dadurch, daß man dabei ihre Dogmen mit Ironie behandelt und die Sinne gegen ihre Moralvorschriften ins Feld führt. Luther, Calvin und Knox haben jenen, Rabelais und Voltaire diesen Weg eingeschlagen. Es ist aber klar, daß die Einen das sittliche Gefühl stärken, die Anderen dasselbe schwächen mußten. Daher kommt, daß fast alle französischen Schriftsteller, die an der Befreiung der Geister von Rom arbeiteten, einen mehr oder minder unsittlichen Zug an sich haben. Diejenigen aber, welche die Moral achten, und die man daher der Jugend in die Hände geben kann, Bossuet, Fenelon, Racine z. B. fast immer der Kirche ergeben und von ab¬ solutistischen Lehren durchdrungen sind. In England und Amerika verhält sieh's hierin anders: die entschiedensten Freunde der Freiheit sind hier zugleich die, welche es mit der Moral am strengsten nehmen. Während Bossuet die Theorie des Absolutismus formulirte, schrieb Milton die der Republik nieder. Man sehe davon die Folgen. Man vergleiche das Privatleben der Männer, die 1K48 die englische Revolution herbeiführten, und derer, die später die nord¬ amerikanische Republik gründeten, mit dem derjenigen, welche 1789 in Frank¬ reich dieDauptrollen spielten. Jene sind durchgehends rechtschaffne Leute von fleckenloser Sitte, diese dagegen, von einigen Fanatikern wie Se. Just und Robespierre abgesehen, äußerst lockere und lüderliche Gesellen. Der bedeu¬ tendste unter ihnen, der geniale Mirabeau, dieser eigentlichste Vertreter der französischen Revolution, verkauft sich dem Hofe, schreibt obscöne Bücher und treibt seine Ausschweifungen bis zu den letzten Grenzen. Edgar Quinet bemerkt in seinem Buche über die französische Revolution, daß die Männer dieser Epoche, anfangs so voll Begeisterung, so bald in ihren Anstrengungen ermüdeten und die Ruhe der Knechtschaft unter dem Kaiserreiche verlangten oder sie sich doch gefallen ließen. Die Gueusen Hollands haben länger ge¬ kämpft und ohne sich entmuthigen zu lassen schwerere Prüfungen durchgemacht. Ihre Städte wurden erstürmt, ganze Bevölkerungen niedergemetzelt, sie stritten fort, eine Handvoll Menschen, gegen eine Weltmacht, sie fühlten weder Er¬ schlaffung noch Entmuthigung, und sie errangen endlich den Sieg — sie hatten den Glauben. Der Stolz, der Ehrgeiz, die Eitelkeit waren Hauptbeweggründe bei den hervorragenden Geistern der französischen Revolution, sie brachten einander um statt sich zur Gründung der Republik zu vereinigen. In Holland, in England, in Amerika kannte man diese Motive nicht; demüthig, anspruchslos, verstän¬ digten sich die Männer, die ihr Vaterland von der Tyrannei befreit hatten, zur Befestigung ihres Werkes. Zur Begründung eines Staatswesens lieferte der bescheidene, selbstlose Sinn eines Washington einen besseren Mörtel als die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/52
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/52>, abgerufen am 26.06.2024.