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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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andere für alle idealen Berufsavten giebt es überhaupt nicht. Den Stand¬
punkt des Gymnasiums Herabdrücken, heißt die Leistungen der Nation auf den
bezeichneten Gebieten verringern, heißt die Stellung aufgeben, die unser Volk
in der Reihe der Culturvölker einnimmt. -- Der Fehler liegt auch gar nicht
in der bisher angedeuteten Richtung; er liegt weder in dem bestehenden Lehr¬
plan, noch in den Lehrern, die nothwendig mit dem ersteren in Conflikt kommen
müssen, wenn sie ihre Anforderungen an den häuslichen Fleiß ihrer Schüler
noch mehr herabsetzen. Auch die häusliche Erziehung trägt nicht allein die
Schuld, obwohl diese leider oft genug den idealen Zwecken der Schule ent¬
gegenarbeitet. Aber das war von jeher so. Es ist überhaupt oberflächlich,
alles dem modernen Zeitalter und dem angeblich herrschenden Materialismus
in die Schuhe zu schieben. Auch wenn man von weichlicher, falscher Huma¬
nität in der modernen Jugenderziehung spricht, so ist das nur sehr theilweise
richtig und trifft noch lange nicht den Kern der Sache, von der wir sprechen.
Nach unserer Meinung liegt der Grund der lautgewordenen Klagen aller¬
dings in den modernen Lebensverhältnissen, aber in keiner Verschlechterung
derselben. Es ist oben darauf aufmerksam gemacht worden, daß jede Ueber¬
bürdung immer nur relativ ist, daß dieselbe Aufgabe von dem einen mit
Leichtigkeit zu Stande gebracht, von dem andern aber als Ueberbürdung
empfunden wird. Daß nun die Klagen wegen Ueberbürdung so allgemein
geworden sind, das liegt hauptsächlich in der Qualität un se r er sah üler.
Früher d. h. noch vor etwa dreißig Jahren war es nur ein ausgesuchter
Bruchtheil der Bevölkerung, der seine Kinder zu den Gymnasialstudien an¬
hielt. Nur besonders begabte Knaben wurden auf das Gymnasium gegeben
und zwar meist in der Absicht, sie einer wissenschaftlichen Laufbahn zuzu¬
führen. Das Gymnasium war eben noch wirklich die höchste, die eigentliche
Gelehrtenschule. Heute ist das Gymnasium, so zu sagen, Mädchen für alles.
Nur ein schwacher Bruchtheil der Schüler, die wir in den unteren und
mittleren Klassen haben, ist für die gelehrten Studien in Aussicht genommen
und auch wirklich dazu geeignet. Man sieht es an der Art und Weise, wie
bei den Versetzungen die Generationen aus einander stieben. Von einer Ge¬
neration, die in Sexta und Quinta 30 oder 40 Köpfe zählte, sind nachher
in Prima oft nur 3 oder 4 übrig, die regelmäßig die Klaffen durchlaufen
haben. Der größte Theil fällt vor Obersecunda ab, was auch seinen guten
Grund hat. Dieser betrachtet das Gymnasiam nur als Mittel zum Zweck,
nämlich um die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Dienste zu erlangen
Diese leidige Berechtigung, die mit unserm Secundanerzeugnisse verbunden
ist, verschafft uns einen Ballast unbrauchbarer Köpfe, die nicht das Talent
für klassisches und überhaupt für wissenschaftliches Studium haben und
auf jeder anderen Schule weit bessere Fortschritte machen würden. Dem


andere für alle idealen Berufsavten giebt es überhaupt nicht. Den Stand¬
punkt des Gymnasiums Herabdrücken, heißt die Leistungen der Nation auf den
bezeichneten Gebieten verringern, heißt die Stellung aufgeben, die unser Volk
in der Reihe der Culturvölker einnimmt. — Der Fehler liegt auch gar nicht
in der bisher angedeuteten Richtung; er liegt weder in dem bestehenden Lehr¬
plan, noch in den Lehrern, die nothwendig mit dem ersteren in Conflikt kommen
müssen, wenn sie ihre Anforderungen an den häuslichen Fleiß ihrer Schüler
noch mehr herabsetzen. Auch die häusliche Erziehung trägt nicht allein die
Schuld, obwohl diese leider oft genug den idealen Zwecken der Schule ent¬
gegenarbeitet. Aber das war von jeher so. Es ist überhaupt oberflächlich,
alles dem modernen Zeitalter und dem angeblich herrschenden Materialismus
in die Schuhe zu schieben. Auch wenn man von weichlicher, falscher Huma¬
nität in der modernen Jugenderziehung spricht, so ist das nur sehr theilweise
richtig und trifft noch lange nicht den Kern der Sache, von der wir sprechen.
Nach unserer Meinung liegt der Grund der lautgewordenen Klagen aller¬
dings in den modernen Lebensverhältnissen, aber in keiner Verschlechterung
derselben. Es ist oben darauf aufmerksam gemacht worden, daß jede Ueber¬
bürdung immer nur relativ ist, daß dieselbe Aufgabe von dem einen mit
Leichtigkeit zu Stande gebracht, von dem andern aber als Ueberbürdung
empfunden wird. Daß nun die Klagen wegen Ueberbürdung so allgemein
geworden sind, das liegt hauptsächlich in der Qualität un se r er sah üler.
Früher d. h. noch vor etwa dreißig Jahren war es nur ein ausgesuchter
Bruchtheil der Bevölkerung, der seine Kinder zu den Gymnasialstudien an¬
hielt. Nur besonders begabte Knaben wurden auf das Gymnasium gegeben
und zwar meist in der Absicht, sie einer wissenschaftlichen Laufbahn zuzu¬
führen. Das Gymnasium war eben noch wirklich die höchste, die eigentliche
Gelehrtenschule. Heute ist das Gymnasium, so zu sagen, Mädchen für alles.
Nur ein schwacher Bruchtheil der Schüler, die wir in den unteren und
mittleren Klassen haben, ist für die gelehrten Studien in Aussicht genommen
und auch wirklich dazu geeignet. Man sieht es an der Art und Weise, wie
bei den Versetzungen die Generationen aus einander stieben. Von einer Ge¬
neration, die in Sexta und Quinta 30 oder 40 Köpfe zählte, sind nachher
in Prima oft nur 3 oder 4 übrig, die regelmäßig die Klaffen durchlaufen
haben. Der größte Theil fällt vor Obersecunda ab, was auch seinen guten
Grund hat. Dieser betrachtet das Gymnasiam nur als Mittel zum Zweck,
nämlich um die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Dienste zu erlangen
Diese leidige Berechtigung, die mit unserm Secundanerzeugnisse verbunden
ist, verschafft uns einen Ballast unbrauchbarer Köpfe, die nicht das Talent
für klassisches und überhaupt für wissenschaftliches Studium haben und
auf jeder anderen Schule weit bessere Fortschritte machen würden. Dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/506>, abgerufen am 22.07.2024.