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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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wohl die Charbonnerie bis zur Revolution von 1848 fortdauerte, ist sie doch
ohne erkennbaren Einfluß auf dieselbe gewesen.

Neben den italienischen Carbonari ging noch eine Anzahl von Geheim¬
bünden mit ähnlicher Tendenz her. In Messtna wurde um das Jahr 1820
die Loge der "Patriotischen Reformatoren" gegründet, die mit Logen
in Florenz, Mailand und Turin vermittelst musikalischer Noten correspon-
dirte. In Palermo entstand 1823 die Secte der "Italienischen Lite-
ratursreunde", die mit ihrem Namen politische Tendenzen sehr weitgehen¬
der Art verdeckte. In jeder Stadt hatte sie einen Delegaten, welcher "Der
Radicale" hieß und die Befugniß hatte, sich zehn Andere beizugesellen, denen
er dann als "Centurio" vorstand. Die Aufgenommenen hießen "Söhne" und
hatten das Recht und die Pflicht, wieder um sich zehn geeignete Leute als
Loge zu sammeln. Bet den Aufnahmen stellten die Candidaten den "Bruder
Barrabas" vor, während Christus ihnen als Tyrann gegenüber stand, was
wohl so zu deuten ist, daß Christus die tyrannische Kirche, Barrabas das
nach Befreiung vom Drucke derselben sterbende Volk sein sollte. Man er¬
kannte einander an einem Ringe und unterzeichnete seine Briefe durch die be¬
kannten Buchstaben hö. R. ^. Die Gesellschaft war eine Zeit lang sehr
gefürchtet, schadete aber ebenso wenig, als sie nützte, sie schadete eigentlich nur
sich selbst, insofern sie die Gefängnisse füllen half. Besonders reich an poli¬
tischen Seelen waren kurz vor und in den Jahren der Restauration Calabrien
und die Abruzzen. Wir begegnen hier um das Jahr 1813 den Geheimbünden
der "Europäische Patrioten" oder "Weiße n Pilger", den " Phila-
delphtern" und den "Decisi" (Entschiedener), die sich dann über ander
Theile Italiens verbreiteten und militärisch organisirt waren. Die Logen der
letzteren nannten sich "Decisionen", die der Weißen Pilger "Schwadronen",
die der Phtladelphter "Lager". Die bedeutendste dieser Secten waren die
Decisi. Sie sollen in ihrer Blüthezeit gegen 40,000 Mitglieder gezählt haben,
hielten ihre Zusammenkünfte, bei denen sorgfältig Schildwachen ausgestellt
wurden, bei Nacht ab und übten sich in einsam gelegnen Häusern und ver-
lassnen Klöstern in den Waffen. Ihre Absicht ging darauf, Neapel zu über¬
fallen und dort die Republik auszurufen, aber die Umstände waren nicht
günstig, und so begnügte sich ihr Führer Ciro Annichiaro, das Land als
höherer Räuberhauptmann mit Mord und Brandschatzung heimzusuchen.

Annichiaro war ursprünglich Priester. Wegen eines Mordes, den er aus
Eifersucht begangen , sollte er auf fünfzehn Jahre in die Verbannung gehen, ent¬
floh aber in die Bergwälder und trat hier an die Spitze einer Bande von flüchtigen
Verbrechern, mit denen er dann allerlei wilde Thaten verübte, wie er denn unter
Anderm zu Martano in das vornehmste Haus der Stadt eindrang und nachdem er
der Herrin desselben Gewalt angethan, sie mit allen ihren Leuten ermordete und


wohl die Charbonnerie bis zur Revolution von 1848 fortdauerte, ist sie doch
ohne erkennbaren Einfluß auf dieselbe gewesen.

Neben den italienischen Carbonari ging noch eine Anzahl von Geheim¬
bünden mit ähnlicher Tendenz her. In Messtna wurde um das Jahr 1820
die Loge der „Patriotischen Reformatoren" gegründet, die mit Logen
in Florenz, Mailand und Turin vermittelst musikalischer Noten correspon-
dirte. In Palermo entstand 1823 die Secte der „Italienischen Lite-
ratursreunde", die mit ihrem Namen politische Tendenzen sehr weitgehen¬
der Art verdeckte. In jeder Stadt hatte sie einen Delegaten, welcher „Der
Radicale" hieß und die Befugniß hatte, sich zehn Andere beizugesellen, denen
er dann als „Centurio" vorstand. Die Aufgenommenen hießen „Söhne" und
hatten das Recht und die Pflicht, wieder um sich zehn geeignete Leute als
Loge zu sammeln. Bet den Aufnahmen stellten die Candidaten den „Bruder
Barrabas" vor, während Christus ihnen als Tyrann gegenüber stand, was
wohl so zu deuten ist, daß Christus die tyrannische Kirche, Barrabas das
nach Befreiung vom Drucke derselben sterbende Volk sein sollte. Man er¬
kannte einander an einem Ringe und unterzeichnete seine Briefe durch die be¬
kannten Buchstaben hö. R. ^. Die Gesellschaft war eine Zeit lang sehr
gefürchtet, schadete aber ebenso wenig, als sie nützte, sie schadete eigentlich nur
sich selbst, insofern sie die Gefängnisse füllen half. Besonders reich an poli¬
tischen Seelen waren kurz vor und in den Jahren der Restauration Calabrien
und die Abruzzen. Wir begegnen hier um das Jahr 1813 den Geheimbünden
der „Europäische Patrioten" oder „Weiße n Pilger", den „ Phila-
delphtern" und den „Decisi" (Entschiedener), die sich dann über ander
Theile Italiens verbreiteten und militärisch organisirt waren. Die Logen der
letzteren nannten sich „Decisionen", die der Weißen Pilger „Schwadronen",
die der Phtladelphter „Lager". Die bedeutendste dieser Secten waren die
Decisi. Sie sollen in ihrer Blüthezeit gegen 40,000 Mitglieder gezählt haben,
hielten ihre Zusammenkünfte, bei denen sorgfältig Schildwachen ausgestellt
wurden, bei Nacht ab und übten sich in einsam gelegnen Häusern und ver-
lassnen Klöstern in den Waffen. Ihre Absicht ging darauf, Neapel zu über¬
fallen und dort die Republik auszurufen, aber die Umstände waren nicht
günstig, und so begnügte sich ihr Führer Ciro Annichiaro, das Land als
höherer Räuberhauptmann mit Mord und Brandschatzung heimzusuchen.

Annichiaro war ursprünglich Priester. Wegen eines Mordes, den er aus
Eifersucht begangen , sollte er auf fünfzehn Jahre in die Verbannung gehen, ent¬
floh aber in die Bergwälder und trat hier an die Spitze einer Bande von flüchtigen
Verbrechern, mit denen er dann allerlei wilde Thaten verübte, wie er denn unter
Anderm zu Martano in das vornehmste Haus der Stadt eindrang und nachdem er
der Herrin desselben Gewalt angethan, sie mit allen ihren Leuten ermordete und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/500>, abgerufen am 22.07.2024.