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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Gehinnom, die jüdische Hölle, zurückzuführen. Er war als "Engel des Bun¬
des" bei jedem Beschneidungsact zugegen, und so stellte man ihm bei solchen
Gelegenheiten einen besonderen Stuhl hin. Nach einigen Sagen hatte er
schon zur Zeit Abraham's gelebt und war dessen ältester Knecht gewesen.
Nach andern hatte er den Jsraeliten während ihres Aufenthalts in Aegypten
sichtbar und unsichtbar allerlei Dienste geleistet. Allgemein galt er den Juden
der Zeit, die wir hier vorzugsweise im Auge haben, als Hauptpatron und
oberster Schirmherr ihres Volkes, weshalb gottesfürchtige Leute ihn am
Sabbath durch Vorsetzung eines Bechers Wein zu ehren pflegten, eine Sitte,
die an den beiden Abenden des Osterfestes noch jetzt in vielen jüdischen Häu¬
sern beobachtet wird. Kein Wunder daher, daß er nach Ansicht der Kabbala
den Juden auch den Messias bringen und dessen oberster Diener, gleichsam
sein Premierminister, sein sollte.

Die Vorgänge bei dem Beginn des Messiasreiches dachte man sich ver¬
schieden. Die verbreitetste Vorstellung scheint folgende gewesen zu sein. Zu¬
nächst trat ein Erzengel, nach den Einen Uriel, nach den Andern Michael, auf
und stieß in ein großes Horn. Auf das erste Blasen erschien der Messias
mit dem Propheten Elias, um sich den Kindern Israel zu offenbaren. Alle
Juden, die von Angehörigen des Zweistämmereiches abstammten, hörten die
Stimme des Horns, und erkannten, daß Gott sein Volk heimzusuchen und zu
erlösen gekommen. Sie gürteten fröhlich ihre Lenden, machten sich auf die
Beine und zogen geführt von dem Messias und Elias nach Jerusalem. Darauf
stieß der Erzengel abermals in sein Horn und zwar sehr stark und lange,
und jetzt öffneten sich alle Gräber zu Jerusalem, um ihre Todten wieder dem
Leben zurückzugeben. Die Juden aber, welche noch in den Ländern der Go-
jim zurückgeblieben, wurden von den Königen dieser Länder auf ihren Feder¬
wagen den vorausgegangenen nach Jerusalem nachgefahren -- sehr Stolze
wollten wissen, auf ihren Schultern nachgetragen. Wenn aber das Horn zum
dritten Mal ertönte, so führte Gott die Jsraeliten, die über den Wassern von
Gasan, Lachlach und Chobar wohnten, und unter denen vermuthlich die verloren
gegangenen zehn Stämme gemeint waren, herbei und brachte sie mit den
übrigen nach Jerusalem. Gott selbst zog ihnen in einer Wolken- oder Rauch¬
säule voran, und hinter und neben ihnen war nichts als Feuer und Flamme,
sodaß den andern Völkern ringsum nichts übrig blieb, wovon sie sich er¬
halten konnten.

Alle Freunde eines gesunden Humors kennen die allerliebste Geschichte in
Grimmelshcmsen's "Vogelnest", wo der Verfasser den reichen amsterdüiner
Juden Elteser und dessen schöne Tochter Esther auf Grund dieses Aberglau¬
bens vethören läßt, und wo sie einer nicht kennt, so sei sie ihm hiermit als
ergötzlichsten Inhalts und vortrefflich erzählt warm empfohlen. Aber nicht


Gehinnom, die jüdische Hölle, zurückzuführen. Er war als „Engel des Bun¬
des" bei jedem Beschneidungsact zugegen, und so stellte man ihm bei solchen
Gelegenheiten einen besonderen Stuhl hin. Nach einigen Sagen hatte er
schon zur Zeit Abraham's gelebt und war dessen ältester Knecht gewesen.
Nach andern hatte er den Jsraeliten während ihres Aufenthalts in Aegypten
sichtbar und unsichtbar allerlei Dienste geleistet. Allgemein galt er den Juden
der Zeit, die wir hier vorzugsweise im Auge haben, als Hauptpatron und
oberster Schirmherr ihres Volkes, weshalb gottesfürchtige Leute ihn am
Sabbath durch Vorsetzung eines Bechers Wein zu ehren pflegten, eine Sitte,
die an den beiden Abenden des Osterfestes noch jetzt in vielen jüdischen Häu¬
sern beobachtet wird. Kein Wunder daher, daß er nach Ansicht der Kabbala
den Juden auch den Messias bringen und dessen oberster Diener, gleichsam
sein Premierminister, sein sollte.

Die Vorgänge bei dem Beginn des Messiasreiches dachte man sich ver¬
schieden. Die verbreitetste Vorstellung scheint folgende gewesen zu sein. Zu¬
nächst trat ein Erzengel, nach den Einen Uriel, nach den Andern Michael, auf
und stieß in ein großes Horn. Auf das erste Blasen erschien der Messias
mit dem Propheten Elias, um sich den Kindern Israel zu offenbaren. Alle
Juden, die von Angehörigen des Zweistämmereiches abstammten, hörten die
Stimme des Horns, und erkannten, daß Gott sein Volk heimzusuchen und zu
erlösen gekommen. Sie gürteten fröhlich ihre Lenden, machten sich auf die
Beine und zogen geführt von dem Messias und Elias nach Jerusalem. Darauf
stieß der Erzengel abermals in sein Horn und zwar sehr stark und lange,
und jetzt öffneten sich alle Gräber zu Jerusalem, um ihre Todten wieder dem
Leben zurückzugeben. Die Juden aber, welche noch in den Ländern der Go-
jim zurückgeblieben, wurden von den Königen dieser Länder auf ihren Feder¬
wagen den vorausgegangenen nach Jerusalem nachgefahren — sehr Stolze
wollten wissen, auf ihren Schultern nachgetragen. Wenn aber das Horn zum
dritten Mal ertönte, so führte Gott die Jsraeliten, die über den Wassern von
Gasan, Lachlach und Chobar wohnten, und unter denen vermuthlich die verloren
gegangenen zehn Stämme gemeint waren, herbei und brachte sie mit den
übrigen nach Jerusalem. Gott selbst zog ihnen in einer Wolken- oder Rauch¬
säule voran, und hinter und neben ihnen war nichts als Feuer und Flamme,
sodaß den andern Völkern ringsum nichts übrig blieb, wovon sie sich er¬
halten konnten.

Alle Freunde eines gesunden Humors kennen die allerliebste Geschichte in
Grimmelshcmsen's „Vogelnest", wo der Verfasser den reichen amsterdüiner
Juden Elteser und dessen schöne Tochter Esther auf Grund dieses Aberglau¬
bens vethören läßt, und wo sie einer nicht kennt, so sei sie ihm hiermit als
ergötzlichsten Inhalts und vortrefflich erzählt warm empfohlen. Aber nicht


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[0291] Gehinnom, die jüdische Hölle, zurückzuführen. Er war als „Engel des Bun¬ des" bei jedem Beschneidungsact zugegen, und so stellte man ihm bei solchen Gelegenheiten einen besonderen Stuhl hin. Nach einigen Sagen hatte er schon zur Zeit Abraham's gelebt und war dessen ältester Knecht gewesen. Nach andern hatte er den Jsraeliten während ihres Aufenthalts in Aegypten sichtbar und unsichtbar allerlei Dienste geleistet. Allgemein galt er den Juden der Zeit, die wir hier vorzugsweise im Auge haben, als Hauptpatron und oberster Schirmherr ihres Volkes, weshalb gottesfürchtige Leute ihn am Sabbath durch Vorsetzung eines Bechers Wein zu ehren pflegten, eine Sitte, die an den beiden Abenden des Osterfestes noch jetzt in vielen jüdischen Häu¬ sern beobachtet wird. Kein Wunder daher, daß er nach Ansicht der Kabbala den Juden auch den Messias bringen und dessen oberster Diener, gleichsam sein Premierminister, sein sollte. Die Vorgänge bei dem Beginn des Messiasreiches dachte man sich ver¬ schieden. Die verbreitetste Vorstellung scheint folgende gewesen zu sein. Zu¬ nächst trat ein Erzengel, nach den Einen Uriel, nach den Andern Michael, auf und stieß in ein großes Horn. Auf das erste Blasen erschien der Messias mit dem Propheten Elias, um sich den Kindern Israel zu offenbaren. Alle Juden, die von Angehörigen des Zweistämmereiches abstammten, hörten die Stimme des Horns, und erkannten, daß Gott sein Volk heimzusuchen und zu erlösen gekommen. Sie gürteten fröhlich ihre Lenden, machten sich auf die Beine und zogen geführt von dem Messias und Elias nach Jerusalem. Darauf stieß der Erzengel abermals in sein Horn und zwar sehr stark und lange, und jetzt öffneten sich alle Gräber zu Jerusalem, um ihre Todten wieder dem Leben zurückzugeben. Die Juden aber, welche noch in den Ländern der Go- jim zurückgeblieben, wurden von den Königen dieser Länder auf ihren Feder¬ wagen den vorausgegangenen nach Jerusalem nachgefahren — sehr Stolze wollten wissen, auf ihren Schultern nachgetragen. Wenn aber das Horn zum dritten Mal ertönte, so führte Gott die Jsraeliten, die über den Wassern von Gasan, Lachlach und Chobar wohnten, und unter denen vermuthlich die verloren gegangenen zehn Stämme gemeint waren, herbei und brachte sie mit den übrigen nach Jerusalem. Gott selbst zog ihnen in einer Wolken- oder Rauch¬ säule voran, und hinter und neben ihnen war nichts als Feuer und Flamme, sodaß den andern Völkern ringsum nichts übrig blieb, wovon sie sich er¬ halten konnten. Alle Freunde eines gesunden Humors kennen die allerliebste Geschichte in Grimmelshcmsen's „Vogelnest", wo der Verfasser den reichen amsterdüiner Juden Elteser und dessen schöne Tochter Esther auf Grund dieses Aberglau¬ bens vethören läßt, und wo sie einer nicht kennt, so sei sie ihm hiermit als ergötzlichsten Inhalts und vortrefflich erzählt warm empfohlen. Aber nicht

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/291>, abgerufen am 25.08.2024.