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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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vielleicht ebensoviel? Frauen dort versammelt. Jene trugen, mit Ausnahme
von zwei Sephardim. spanisch redenden Juden, die sich arabisch kleiden, die
Tracht der polnischen Jsraeliten, den Kaftan. die Pelzmütze oder den Spitz¬
hut und die langen Schläfenlocken, die wir früher zu den Merkwürdigkeiten
der leipziger Messe zählten. Die Weiber waren in weiße Baumwollenmäntel
gehüllt, die auch den Kopf und die untere Hälfte des Gesichts verbargen. Die
Männer standen der Tempelmauer zugekehrt, die Frauen kauerten ein Stück
davon wie ein Taubenschwarm auf dem Erdboden. Alle hatten die Schuhe
ausgezogen. Namentlich das weibliche Geschlecht soll bei diesen Andachts¬
übungen zuweilen die wildesten, erschütterndsten Wehklagen ausstoßen. Dies¬
mal aber verhielten sie sich still, und auch die Männer unterschieden sich nicht
wesentlich von einer unsrer orthodoxen Judenschulen in voller Gebetsarbeit.
Man hörte das bekannte Murmeln, mitunter eine Reihenfolge lauter Gaumen-
und Gurgeltöne, den üblich zitternden Gesang, und nur dann und wann
unterbrach ein besonders erregtes Gemüth den Chor mit einem Wimmern
durch die Nase oder einem gellenden Aufschrei. Einige hatten stumm die Stirn
an die verwitterten Steine gelegt, andere lasen oder sangen, taktmäßig mit
dem rechten Fuße vor- und wieder zurücktretend und sich verbeugend, aus ab¬
gegriffnen Büchern ihre Gebete ab.

Ich blickte dem Einen über die Schulter in sein Buch. Er fragte, ob
ich Hebräisch lesen könne, und als ich dies bejahte, entspann sich ein Gespräch,
an welchem bald auch Andere sich betheiligten. Leider verstand ich ihr Juden¬
deutsch nur halb. Doch erfuhr ich, daß hier "Molen Kodesch", heiliger Bo¬
den, sei, daß der Tempel nicht lange mehr eine Trümmerstätte bleiben werde,
und daß "nach den Büchern" in ungefähr dreihundert Jahren "Meschiach"
kommen, die Herrlichkeit "Jeruschalajims" wieder aufrichten und alle "Gojim"
zu Mosis Lehre bekehren werde. Alle großen Herren von "Chuzeleorez" (Aus¬
land. NichtPalästina) mit Einschluß des Kaisers in Wien und der Königin
von England würden dann Juden werden.

Man kennt die Entwickelung des Messiasglaubens. Er bildete sich schon
in den Tagen der alten Propheten aus der Erinnerung an die Glanzzeit des
Volkes unter David und Salomo und aus der Sehnsucht nach der Wiederkehr
dieser Zeit, einer Sehnsucht, die sich allmählich mit der Hoffnung auf allge¬
meine Weltherrschaft und den Genuß hohen irdischen Glückes verband, und
die mit dieser Hoffnung durch Jahrhunderte voll Erniedrigung und Leides
fortlebte, selbst das babylonische Exil überdauerte und auch dann nicht erstarb,
als die Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch Titus und die Zer¬
streuung des Volkes Gottes über die ganze Erde ihr alle Grundlagen entzogen
zu haben schienen. Die Messiasidee war eine rein politische, soweit sich dieß
von dem Gedanken an eine die Welt umfassende Theokratie behaupten läßt-


vielleicht ebensoviel? Frauen dort versammelt. Jene trugen, mit Ausnahme
von zwei Sephardim. spanisch redenden Juden, die sich arabisch kleiden, die
Tracht der polnischen Jsraeliten, den Kaftan. die Pelzmütze oder den Spitz¬
hut und die langen Schläfenlocken, die wir früher zu den Merkwürdigkeiten
der leipziger Messe zählten. Die Weiber waren in weiße Baumwollenmäntel
gehüllt, die auch den Kopf und die untere Hälfte des Gesichts verbargen. Die
Männer standen der Tempelmauer zugekehrt, die Frauen kauerten ein Stück
davon wie ein Taubenschwarm auf dem Erdboden. Alle hatten die Schuhe
ausgezogen. Namentlich das weibliche Geschlecht soll bei diesen Andachts¬
übungen zuweilen die wildesten, erschütterndsten Wehklagen ausstoßen. Dies¬
mal aber verhielten sie sich still, und auch die Männer unterschieden sich nicht
wesentlich von einer unsrer orthodoxen Judenschulen in voller Gebetsarbeit.
Man hörte das bekannte Murmeln, mitunter eine Reihenfolge lauter Gaumen-
und Gurgeltöne, den üblich zitternden Gesang, und nur dann und wann
unterbrach ein besonders erregtes Gemüth den Chor mit einem Wimmern
durch die Nase oder einem gellenden Aufschrei. Einige hatten stumm die Stirn
an die verwitterten Steine gelegt, andere lasen oder sangen, taktmäßig mit
dem rechten Fuße vor- und wieder zurücktretend und sich verbeugend, aus ab¬
gegriffnen Büchern ihre Gebete ab.

Ich blickte dem Einen über die Schulter in sein Buch. Er fragte, ob
ich Hebräisch lesen könne, und als ich dies bejahte, entspann sich ein Gespräch,
an welchem bald auch Andere sich betheiligten. Leider verstand ich ihr Juden¬
deutsch nur halb. Doch erfuhr ich, daß hier „Molen Kodesch", heiliger Bo¬
den, sei, daß der Tempel nicht lange mehr eine Trümmerstätte bleiben werde,
und daß „nach den Büchern" in ungefähr dreihundert Jahren „Meschiach"
kommen, die Herrlichkeit „Jeruschalajims" wieder aufrichten und alle „Gojim"
zu Mosis Lehre bekehren werde. Alle großen Herren von „Chuzeleorez" (Aus¬
land. NichtPalästina) mit Einschluß des Kaisers in Wien und der Königin
von England würden dann Juden werden.

Man kennt die Entwickelung des Messiasglaubens. Er bildete sich schon
in den Tagen der alten Propheten aus der Erinnerung an die Glanzzeit des
Volkes unter David und Salomo und aus der Sehnsucht nach der Wiederkehr
dieser Zeit, einer Sehnsucht, die sich allmählich mit der Hoffnung auf allge¬
meine Weltherrschaft und den Genuß hohen irdischen Glückes verband, und
die mit dieser Hoffnung durch Jahrhunderte voll Erniedrigung und Leides
fortlebte, selbst das babylonische Exil überdauerte und auch dann nicht erstarb,
als die Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch Titus und die Zer¬
streuung des Volkes Gottes über die ganze Erde ihr alle Grundlagen entzogen
zu haben schienen. Die Messiasidee war eine rein politische, soweit sich dieß
von dem Gedanken an eine die Welt umfassende Theokratie behaupten läßt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/286>, abgerufen am 25.08.2024.