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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Lin Messias der Juden.
Von Moritz Busch.

Zu den Sehenswürdigkeiten Jerusalems, die der gewissenhafte Reisende
nicht unbesucht lassen darf, gehört der sogenannte Klageplatz der Juden. Er
befindet sich unten an der Westseite des Moriah-Hügels, und man gelangt
dahin durch ein Gäßchen. das sich links von der Davidstraße abzweigt. Nach¬
dem wir die Windungen des engen Gäßchens eine Strecke verfolgt haben,
öffnet sich vor uns bei den Häusern der Mogrebin, das heißt der hier ange¬
siedelten Juden aus Nordafrika, eine schmale, niedrige Pforte, durch die wir
w einen vierzig bis fünfzig Schritt langen Hof oder, wenn man will, in
eine kleine Sackgasse treten, welche links von einer hohen, unten aus gewal¬
tigen Quadern bestehenden Mauer überragt wird. Diese Mauer, in der sich
fugengeränderte Werkstücke von drei bis vier Metern Länge und entsprechen¬
der Höhe finden, gehört aller Wahrscheinlichkeit nach zu den Substructionen
der Are", auf der sich einst der Tempel erhob, und so ist die Stelle für die
hier wohnende Nachkommenschaft Israels eine heilige Stätte, an der sie
alle Freitage in den Stunden vor Sonnenuntergang ihre Andacht verrichtet,
über den Untergang ihres Heiligthums klagt und den Gott der Bäter um
baldige Sendung des Meschiach und Wiederaufrichtung ihrer Nationalität
anruft. Dieß geschieht in der Form von Antiphonien, bei denen das ver¬
sammelte Boll einem Vorsänger antwortet, und von welchen eine, von
Bädeker in seinem Reisehandbuche über Palästina und Syrien mitgetheilt,
folgendermaßen lautet:

"Wir bitten Dich, erbarme Dich Zions. -- Sammle die Kinder Jerusa-
lems. Eile, o eile, Zions Erlöser! -- Sprich zum Herzen Jerusalems. --
Schönheit und Herrlichkeit möge Zion umgeben. -- Ach, wende Dich gnädig
Jerusalem! -- Möge bald das Königreich wieder über Zion erscheinen. --
^ofte. die über Jerusalem weinen. -- Möge Friede und Freude in Zion
einkehren. -- Und der Zweig Jesse zu Jerusalem aufsprossen."

Als ich sie im April 1859 besuchte, waren etwa dreißig Männer und


Grenzboten IV. 1875. 36
Lin Messias der Juden.
Von Moritz Busch.

Zu den Sehenswürdigkeiten Jerusalems, die der gewissenhafte Reisende
nicht unbesucht lassen darf, gehört der sogenannte Klageplatz der Juden. Er
befindet sich unten an der Westseite des Moriah-Hügels, und man gelangt
dahin durch ein Gäßchen. das sich links von der Davidstraße abzweigt. Nach¬
dem wir die Windungen des engen Gäßchens eine Strecke verfolgt haben,
öffnet sich vor uns bei den Häusern der Mogrebin, das heißt der hier ange¬
siedelten Juden aus Nordafrika, eine schmale, niedrige Pforte, durch die wir
w einen vierzig bis fünfzig Schritt langen Hof oder, wenn man will, in
eine kleine Sackgasse treten, welche links von einer hohen, unten aus gewal¬
tigen Quadern bestehenden Mauer überragt wird. Diese Mauer, in der sich
fugengeränderte Werkstücke von drei bis vier Metern Länge und entsprechen¬
der Höhe finden, gehört aller Wahrscheinlichkeit nach zu den Substructionen
der Are«, auf der sich einst der Tempel erhob, und so ist die Stelle für die
hier wohnende Nachkommenschaft Israels eine heilige Stätte, an der sie
alle Freitage in den Stunden vor Sonnenuntergang ihre Andacht verrichtet,
über den Untergang ihres Heiligthums klagt und den Gott der Bäter um
baldige Sendung des Meschiach und Wiederaufrichtung ihrer Nationalität
anruft. Dieß geschieht in der Form von Antiphonien, bei denen das ver¬
sammelte Boll einem Vorsänger antwortet, und von welchen eine, von
Bädeker in seinem Reisehandbuche über Palästina und Syrien mitgetheilt,
folgendermaßen lautet:

„Wir bitten Dich, erbarme Dich Zions. — Sammle die Kinder Jerusa-
lems. Eile, o eile, Zions Erlöser! — Sprich zum Herzen Jerusalems. —
Schönheit und Herrlichkeit möge Zion umgeben. — Ach, wende Dich gnädig
Jerusalem! — Möge bald das Königreich wieder über Zion erscheinen. —
^ofte. die über Jerusalem weinen. — Möge Friede und Freude in Zion
einkehren. — Und der Zweig Jesse zu Jerusalem aufsprossen."

Als ich sie im April 1859 besuchte, waren etwa dreißig Männer und


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[0285] Lin Messias der Juden. Von Moritz Busch. Zu den Sehenswürdigkeiten Jerusalems, die der gewissenhafte Reisende nicht unbesucht lassen darf, gehört der sogenannte Klageplatz der Juden. Er befindet sich unten an der Westseite des Moriah-Hügels, und man gelangt dahin durch ein Gäßchen. das sich links von der Davidstraße abzweigt. Nach¬ dem wir die Windungen des engen Gäßchens eine Strecke verfolgt haben, öffnet sich vor uns bei den Häusern der Mogrebin, das heißt der hier ange¬ siedelten Juden aus Nordafrika, eine schmale, niedrige Pforte, durch die wir w einen vierzig bis fünfzig Schritt langen Hof oder, wenn man will, in eine kleine Sackgasse treten, welche links von einer hohen, unten aus gewal¬ tigen Quadern bestehenden Mauer überragt wird. Diese Mauer, in der sich fugengeränderte Werkstücke von drei bis vier Metern Länge und entsprechen¬ der Höhe finden, gehört aller Wahrscheinlichkeit nach zu den Substructionen der Are«, auf der sich einst der Tempel erhob, und so ist die Stelle für die hier wohnende Nachkommenschaft Israels eine heilige Stätte, an der sie alle Freitage in den Stunden vor Sonnenuntergang ihre Andacht verrichtet, über den Untergang ihres Heiligthums klagt und den Gott der Bäter um baldige Sendung des Meschiach und Wiederaufrichtung ihrer Nationalität anruft. Dieß geschieht in der Form von Antiphonien, bei denen das ver¬ sammelte Boll einem Vorsänger antwortet, und von welchen eine, von Bädeker in seinem Reisehandbuche über Palästina und Syrien mitgetheilt, folgendermaßen lautet: „Wir bitten Dich, erbarme Dich Zions. — Sammle die Kinder Jerusa- lems. Eile, o eile, Zions Erlöser! — Sprich zum Herzen Jerusalems. — Schönheit und Herrlichkeit möge Zion umgeben. — Ach, wende Dich gnädig Jerusalem! — Möge bald das Königreich wieder über Zion erscheinen. — ^ofte. die über Jerusalem weinen. — Möge Friede und Freude in Zion einkehren. — Und der Zweig Jesse zu Jerusalem aufsprossen." Als ich sie im April 1859 besuchte, waren etwa dreißig Männer und Grenzboten IV. 1875. 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/285>, abgerufen am 22.07.2024.