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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Wenn er früher gar keine oder nur denselben kleinen Kreis von Gedanken
stets wieder zu produciren pflegte, so jagt sich jetzt die Fluth der Gedanken
in seinem Gehirn wie ein stürzender Waldbach. Er scheint deshalb nicht nur
geistreicher, witziger und beredter als sonst, er ist es auch. In unaufhörlichem
Strome fließen ihm stets neue Gedanken zu, und da er sie mit einer Schnellig¬
keit verarbeitet und gruppirt, der Andere kaum zu folgen vermögen, so über¬
rascht er durch Witz und Beredsamkeit. Aber doch weniger vor dem kritischen
Blick eines nüchternen Beobachters, als vor seinem eignen Urtheile. Dem
erscheint die Gestalt seines Körpers so groß und erhaben, seine Kraft so her¬
kulisch, seine Stimme so süß. melodisch und gewaltig zugleich, seine Bered¬
samkeit so hinreißend und überzeugend, daß ihn auch das grenzenloseste
Fiasco nicht über die der Nichtigkeit seiner eignen Schätzung zu belehren
vermag."

Der Grund beider Zustände liegt in der verkehrten Leistung der Sinnes¬
nerven und den falschen Eindrücken,. welche dieselben dem Gehirne zuführen.
Der Melancholische hört wirklich Stimmen, die ihm schlimme Dinge in Aus¬
sicht stellen oder ihm Vorwürfe machen, und er sieht Gestalten, die ihn
bedrohen. Er fühlt seine Muskeln geschwächt, und er riecht und schmeckt im
unschuldigsten Tränke das Gift des Feindes. Dem Tobsüchtigen klingt
wirklich seine Stimme lieblich wie Flötenton oder kräftig wie Meeres¬
brausen, er sieht sich wirklich groß und schön, fühlt sich wirklich stark, er
schmeckt und riecht wirklich seiner, und alles das erzeugt in ihm die Em-
findung unsäglichen und unendlichen Behagens. Wie aber niemand sein Licht
unter den Scheffel stellt, so am wenigsten der Tobsüchtige. Es treibt ihn
unwiderstehlich, seine Stärke zu zeigen, seine Stimme ertönen und die Schön¬
heit seines Körpers bewundern zu lassen. Die Welt soll erfahren, welch ein
Mann er ist, und ihm huldigend zu Füßen zu fallen.

Doch führen auch dem Tobsüchtigen die Sinne unangenehme Empfin¬
dungen und Wahrnehmungen zu, nur mit anderer Wirkung als bei dem
Melancholischen. Dieser wird dadurch scheuer, ängstlicher und verschlossener. Der
Tobsüchtige dagegen betrachtet sich als von Andern nicht richtig erkannt, ge¬
würdigt und geehrt, ja als beleidigt, gehaßt und verfolgt, und so kommt
es in beiden Stadien zu den sogenannten Verfolgungsideen, die den Melan
cholischen bedrücken, den Tobsüchtigen aber zu Gewaltthätigkeiten reizen. Bei
dem letzteren ist es ein Verbrechen, nicht derselben Meinung zu sein wie er,
Zweifel an seiner Vortrefflichkeit und Erhabenheit zu hegen, bet seinen unver¬
gleichlichen Leistungen gleichgültig zu bleiben, ein Verbrechen, welches, wo die
Umstände es erlauben, mit dem Tode bestraft werden muß. Denn er ist ja
der Mittelpunkt der Welt, seinetwegen ist die Erde mit allem, was aus ihr,
erschaffen, und wer ihm nicht huldigt, ist ein Frevler, ein Verräther."


Wenn er früher gar keine oder nur denselben kleinen Kreis von Gedanken
stets wieder zu produciren pflegte, so jagt sich jetzt die Fluth der Gedanken
in seinem Gehirn wie ein stürzender Waldbach. Er scheint deshalb nicht nur
geistreicher, witziger und beredter als sonst, er ist es auch. In unaufhörlichem
Strome fließen ihm stets neue Gedanken zu, und da er sie mit einer Schnellig¬
keit verarbeitet und gruppirt, der Andere kaum zu folgen vermögen, so über¬
rascht er durch Witz und Beredsamkeit. Aber doch weniger vor dem kritischen
Blick eines nüchternen Beobachters, als vor seinem eignen Urtheile. Dem
erscheint die Gestalt seines Körpers so groß und erhaben, seine Kraft so her¬
kulisch, seine Stimme so süß. melodisch und gewaltig zugleich, seine Bered¬
samkeit so hinreißend und überzeugend, daß ihn auch das grenzenloseste
Fiasco nicht über die der Nichtigkeit seiner eignen Schätzung zu belehren
vermag."

Der Grund beider Zustände liegt in der verkehrten Leistung der Sinnes¬
nerven und den falschen Eindrücken,. welche dieselben dem Gehirne zuführen.
Der Melancholische hört wirklich Stimmen, die ihm schlimme Dinge in Aus¬
sicht stellen oder ihm Vorwürfe machen, und er sieht Gestalten, die ihn
bedrohen. Er fühlt seine Muskeln geschwächt, und er riecht und schmeckt im
unschuldigsten Tränke das Gift des Feindes. Dem Tobsüchtigen klingt
wirklich seine Stimme lieblich wie Flötenton oder kräftig wie Meeres¬
brausen, er sieht sich wirklich groß und schön, fühlt sich wirklich stark, er
schmeckt und riecht wirklich seiner, und alles das erzeugt in ihm die Em-
findung unsäglichen und unendlichen Behagens. Wie aber niemand sein Licht
unter den Scheffel stellt, so am wenigsten der Tobsüchtige. Es treibt ihn
unwiderstehlich, seine Stärke zu zeigen, seine Stimme ertönen und die Schön¬
heit seines Körpers bewundern zu lassen. Die Welt soll erfahren, welch ein
Mann er ist, und ihm huldigend zu Füßen zu fallen.

Doch führen auch dem Tobsüchtigen die Sinne unangenehme Empfin¬
dungen und Wahrnehmungen zu, nur mit anderer Wirkung als bei dem
Melancholischen. Dieser wird dadurch scheuer, ängstlicher und verschlossener. Der
Tobsüchtige dagegen betrachtet sich als von Andern nicht richtig erkannt, ge¬
würdigt und geehrt, ja als beleidigt, gehaßt und verfolgt, und so kommt
es in beiden Stadien zu den sogenannten Verfolgungsideen, die den Melan
cholischen bedrücken, den Tobsüchtigen aber zu Gewaltthätigkeiten reizen. Bei
dem letzteren ist es ein Verbrechen, nicht derselben Meinung zu sein wie er,
Zweifel an seiner Vortrefflichkeit und Erhabenheit zu hegen, bet seinen unver¬
gleichlichen Leistungen gleichgültig zu bleiben, ein Verbrechen, welches, wo die
Umstände es erlauben, mit dem Tode bestraft werden muß. Denn er ist ja
der Mittelpunkt der Welt, seinetwegen ist die Erde mit allem, was aus ihr,
erschaffen, und wer ihm nicht huldigt, ist ein Frevler, ein Verräther."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/144>, abgerufen am 01.07.2024.