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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Claudius geheirathet, durch die Intriguen dieser ehrgeizigen Frau wirklich
Kaiser und daß er als solcher nach einiger Zeit auch das Scheusal wurde,
von dem sein Vater einst gesprochen. Auch die Prophezeiung, daß er seine
Mutter umbringen werde, erfüllte sich, und darauf brach bei ihm der inter-
mittirende Wahnsinn aus, der von Anfang an in ihm geschlummert hatte. Nur
dieser interessirt uns hier. Wie er sich im Allgemeinen äußerte, ist bekannt.
Wer die Einzelheiten sich in guter Darstellung zu vergegenwärtigen wünscht,
mag unsre Schrift, die wir hiermit bestens empfohlen haben wollen, zur Hand
nehmen und sie mit der folgenden Schilderung dieser besondern Art der Gei¬
stesstörung vergleichen und als Illustration derselben verbinden:

Jene besondere Art der Geisteserkrankung, welcher Nero zum Opfer wurde,
wird von der Psychiatrie periodische Manie genannt und "unterscheidet sich
durch drei oft sehr bestimmt von einander abgrenzbare Stadien: das Anfangs¬
stadium der Melancholie, das Kernstadium der Tobsucht und das Endstadium
einer zweiten Melancholie. Das erste und das letzte Stadium ist meist von
kurzer Dauer und wenig constanter und prägnanter Erscheinung, das mitt¬
lere ist das eigentlich charakteristische und der Krankheit ihren Namen ver¬
leihende.

In den ausgebildeten melancholischen Stadien wird der Kranke von
Appetit- und Schlaflosigkeit, von Angst, die namentlich in der Herzgrube ihren
Sitz hat, von allgemeiner Verzagtheit, gedrückter, vorwurfsvoller Stimmung, *
Gewissensbissen, von körperlicher und geistiger Schlaffheit und Ermattung,
Unlust zur Arbeit, dann von Sinnestäuschungen aller Art heimgesucht. Der
Kranke hängt seinen Gedanken und Grübeleien und immer derselben Be¬
schäftigung mit sich und einem kleinen Kreise von traurigen Vorstellungen
nach, zieht sich von der Welt zurück, beschränkt sich aus sich selbst und hält
sich für unwürdig, mit Andern zu verkehren. Wenn die Krankheit in diesem
Stadium noch keinen sehr hohen Grad erreicht hat, sucht er seine Angst und
Traurigkeit im Strudel rauschender Vergnügungen, häufig auch in über¬
mäßigem Genuß geistiger Getränke zu betäuben. Nicht selten macht er auch
durch Gewaltthätigkeiten gegen sich und Andere seiner Spannung Luft.

Allmählich tritt er dann in das zweite Stadium, das der Tobsucht, über,
und der Mensch ist wie verwandelt. Von Angst und Reue ist keine Rede
mehr. Er darf sich jetzt Alles erlauben. Er glaubt mehr leisten zu können
als früher, mehr als alle Andern, und er leistet in der That viel. Die
frühere Erschlaffung seiner Muskeln hat nerviger Spannung Platz gemacht.
Er kann jetzt Wochen und Monate Strapatzen ertragen, unter denen sonst
sein Körper in einer Stunde zusammengebrochen wäre. Die Kraft seiner
Arme und Beine erlahmt nicht mehr, die Muskeln der Brust und des Kehl-
kopfs erlauben ihm, zu reden und zu singen soviel und so lange er will.


Claudius geheirathet, durch die Intriguen dieser ehrgeizigen Frau wirklich
Kaiser und daß er als solcher nach einiger Zeit auch das Scheusal wurde,
von dem sein Vater einst gesprochen. Auch die Prophezeiung, daß er seine
Mutter umbringen werde, erfüllte sich, und darauf brach bei ihm der inter-
mittirende Wahnsinn aus, der von Anfang an in ihm geschlummert hatte. Nur
dieser interessirt uns hier. Wie er sich im Allgemeinen äußerte, ist bekannt.
Wer die Einzelheiten sich in guter Darstellung zu vergegenwärtigen wünscht,
mag unsre Schrift, die wir hiermit bestens empfohlen haben wollen, zur Hand
nehmen und sie mit der folgenden Schilderung dieser besondern Art der Gei¬
stesstörung vergleichen und als Illustration derselben verbinden:

Jene besondere Art der Geisteserkrankung, welcher Nero zum Opfer wurde,
wird von der Psychiatrie periodische Manie genannt und „unterscheidet sich
durch drei oft sehr bestimmt von einander abgrenzbare Stadien: das Anfangs¬
stadium der Melancholie, das Kernstadium der Tobsucht und das Endstadium
einer zweiten Melancholie. Das erste und das letzte Stadium ist meist von
kurzer Dauer und wenig constanter und prägnanter Erscheinung, das mitt¬
lere ist das eigentlich charakteristische und der Krankheit ihren Namen ver¬
leihende.

In den ausgebildeten melancholischen Stadien wird der Kranke von
Appetit- und Schlaflosigkeit, von Angst, die namentlich in der Herzgrube ihren
Sitz hat, von allgemeiner Verzagtheit, gedrückter, vorwurfsvoller Stimmung, *
Gewissensbissen, von körperlicher und geistiger Schlaffheit und Ermattung,
Unlust zur Arbeit, dann von Sinnestäuschungen aller Art heimgesucht. Der
Kranke hängt seinen Gedanken und Grübeleien und immer derselben Be¬
schäftigung mit sich und einem kleinen Kreise von traurigen Vorstellungen
nach, zieht sich von der Welt zurück, beschränkt sich aus sich selbst und hält
sich für unwürdig, mit Andern zu verkehren. Wenn die Krankheit in diesem
Stadium noch keinen sehr hohen Grad erreicht hat, sucht er seine Angst und
Traurigkeit im Strudel rauschender Vergnügungen, häufig auch in über¬
mäßigem Genuß geistiger Getränke zu betäuben. Nicht selten macht er auch
durch Gewaltthätigkeiten gegen sich und Andere seiner Spannung Luft.

Allmählich tritt er dann in das zweite Stadium, das der Tobsucht, über,
und der Mensch ist wie verwandelt. Von Angst und Reue ist keine Rede
mehr. Er darf sich jetzt Alles erlauben. Er glaubt mehr leisten zu können
als früher, mehr als alle Andern, und er leistet in der That viel. Die
frühere Erschlaffung seiner Muskeln hat nerviger Spannung Platz gemacht.
Er kann jetzt Wochen und Monate Strapatzen ertragen, unter denen sonst
sein Körper in einer Stunde zusammengebrochen wäre. Die Kraft seiner
Arme und Beine erlahmt nicht mehr, die Muskeln der Brust und des Kehl-
kopfs erlauben ihm, zu reden und zu singen soviel und so lange er will.


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[0143] Claudius geheirathet, durch die Intriguen dieser ehrgeizigen Frau wirklich Kaiser und daß er als solcher nach einiger Zeit auch das Scheusal wurde, von dem sein Vater einst gesprochen. Auch die Prophezeiung, daß er seine Mutter umbringen werde, erfüllte sich, und darauf brach bei ihm der inter- mittirende Wahnsinn aus, der von Anfang an in ihm geschlummert hatte. Nur dieser interessirt uns hier. Wie er sich im Allgemeinen äußerte, ist bekannt. Wer die Einzelheiten sich in guter Darstellung zu vergegenwärtigen wünscht, mag unsre Schrift, die wir hiermit bestens empfohlen haben wollen, zur Hand nehmen und sie mit der folgenden Schilderung dieser besondern Art der Gei¬ stesstörung vergleichen und als Illustration derselben verbinden: Jene besondere Art der Geisteserkrankung, welcher Nero zum Opfer wurde, wird von der Psychiatrie periodische Manie genannt und „unterscheidet sich durch drei oft sehr bestimmt von einander abgrenzbare Stadien: das Anfangs¬ stadium der Melancholie, das Kernstadium der Tobsucht und das Endstadium einer zweiten Melancholie. Das erste und das letzte Stadium ist meist von kurzer Dauer und wenig constanter und prägnanter Erscheinung, das mitt¬ lere ist das eigentlich charakteristische und der Krankheit ihren Namen ver¬ leihende. In den ausgebildeten melancholischen Stadien wird der Kranke von Appetit- und Schlaflosigkeit, von Angst, die namentlich in der Herzgrube ihren Sitz hat, von allgemeiner Verzagtheit, gedrückter, vorwurfsvoller Stimmung, * Gewissensbissen, von körperlicher und geistiger Schlaffheit und Ermattung, Unlust zur Arbeit, dann von Sinnestäuschungen aller Art heimgesucht. Der Kranke hängt seinen Gedanken und Grübeleien und immer derselben Be¬ schäftigung mit sich und einem kleinen Kreise von traurigen Vorstellungen nach, zieht sich von der Welt zurück, beschränkt sich aus sich selbst und hält sich für unwürdig, mit Andern zu verkehren. Wenn die Krankheit in diesem Stadium noch keinen sehr hohen Grad erreicht hat, sucht er seine Angst und Traurigkeit im Strudel rauschender Vergnügungen, häufig auch in über¬ mäßigem Genuß geistiger Getränke zu betäuben. Nicht selten macht er auch durch Gewaltthätigkeiten gegen sich und Andere seiner Spannung Luft. Allmählich tritt er dann in das zweite Stadium, das der Tobsucht, über, und der Mensch ist wie verwandelt. Von Angst und Reue ist keine Rede mehr. Er darf sich jetzt Alles erlauben. Er glaubt mehr leisten zu können als früher, mehr als alle Andern, und er leistet in der That viel. Die frühere Erschlaffung seiner Muskeln hat nerviger Spannung Platz gemacht. Er kann jetzt Wochen und Monate Strapatzen ertragen, unter denen sonst sein Körper in einer Stunde zusammengebrochen wäre. Die Kraft seiner Arme und Beine erlahmt nicht mehr, die Muskeln der Brust und des Kehl- kopfs erlauben ihm, zu reden und zu singen soviel und so lange er will.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/143>, abgerufen am 03.07.2024.