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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Staaten"), so wird man erkennen, daß in der Union das christliche Leben
nicht bloß auf die einzelnen Individuen und die einzelnen kirchlichen Vereine
beschränkt ist, sondern sich auch in den öffentlichen Institutionen einen objek¬
tiven Ausdruck gegeben hat.




Käsarenwahnsinn.

Während früher die römischen Imperatoren von Tiberius bis auf Nero
der Welt einfach als bewußte Bösewichter galten, ist in der letzten Zeit viel¬
fach eine andere, Auffassung ihres Wesens und Lebens geltend zu machen ver¬
sucht worden. Nach den Einen sollte das Bild, welches die alten Geschicht¬
schreiber und namentlich Tacitus von ihnen gezeichnet, an parteiischer Aus¬
fassung oder an Uebertreibung leiden und theilweise geradezu auf Verläum-
dung hinaus laufen; nach den Andern waren die Greuel und Frevel, welche
jene von ihnen berichten, zwar vollständig begründet, aber Handlungen von
Geisteskranken, also weniger ein Gegenstand des Abscheus als des Mitleids.
Bon jener Auffassung hat uns Herr Adolf Stahr vor einigen Jahren in
seiner Biographie des Tiberius eine ungemein erheiternde Probe geliefert.
Dieser huldigten u. A. in Betreff Caligula's Niebuhr und in Bezug auf jenen
und seine nächsten Nachfolger Gregorovius. Man sprach von "Cäsarenwahn¬
sinn", den man sich damit erklärte, daß der Zufall jenen Männern die Herr¬
schaft über die Welt mit allen ihren Genüssen zu Füßen gelegt und sie da¬
durch, sowie durch die hündische Unterwürfigkeit und die Schmeichelei dieser
Welt um ihren Verstand gebracht habe, woraus ein bis zur Selbstvergötterung
gesteigerter ungeheuerlicher Egoismus, ein überall Verrath und Nachstellung
wilderndes Mißtrauen und daneben die Neigung zu widernatürlicher Vollere!
und Wollust hervorgegangen seien.

In dieselbe Klasse von Interpreten dieser grauenhaften Erscheinungen
der römischen Kaiserzeit gehört eine soeben erschienene Schrift des Osnabrücker
Irrenarztes Dr-. Wiedemeister, die den Titel führt: "Der Casa r en w a hn-
sinn der Julisch- Claudischen I aper a loren f am nie, geschildert
an den Kaisern Tiberius, Caligula. Claudius und Nero"**). Indeß sucht
der Verfasser derselben den Grund der geistigen Erkrankung jener Autokraten
in andern Verhältnissen als in ihrem plötzlichen Gelangen zur Weltherrschaft.




") Schafs a. a, O. S. "0.
*"
) Hannover, Verlag von Carl Rümpicr. 1875.

Staaten"), so wird man erkennen, daß in der Union das christliche Leben
nicht bloß auf die einzelnen Individuen und die einzelnen kirchlichen Vereine
beschränkt ist, sondern sich auch in den öffentlichen Institutionen einen objek¬
tiven Ausdruck gegeben hat.




Käsarenwahnsinn.

Während früher die römischen Imperatoren von Tiberius bis auf Nero
der Welt einfach als bewußte Bösewichter galten, ist in der letzten Zeit viel¬
fach eine andere, Auffassung ihres Wesens und Lebens geltend zu machen ver¬
sucht worden. Nach den Einen sollte das Bild, welches die alten Geschicht¬
schreiber und namentlich Tacitus von ihnen gezeichnet, an parteiischer Aus¬
fassung oder an Uebertreibung leiden und theilweise geradezu auf Verläum-
dung hinaus laufen; nach den Andern waren die Greuel und Frevel, welche
jene von ihnen berichten, zwar vollständig begründet, aber Handlungen von
Geisteskranken, also weniger ein Gegenstand des Abscheus als des Mitleids.
Bon jener Auffassung hat uns Herr Adolf Stahr vor einigen Jahren in
seiner Biographie des Tiberius eine ungemein erheiternde Probe geliefert.
Dieser huldigten u. A. in Betreff Caligula's Niebuhr und in Bezug auf jenen
und seine nächsten Nachfolger Gregorovius. Man sprach von „Cäsarenwahn¬
sinn", den man sich damit erklärte, daß der Zufall jenen Männern die Herr¬
schaft über die Welt mit allen ihren Genüssen zu Füßen gelegt und sie da¬
durch, sowie durch die hündische Unterwürfigkeit und die Schmeichelei dieser
Welt um ihren Verstand gebracht habe, woraus ein bis zur Selbstvergötterung
gesteigerter ungeheuerlicher Egoismus, ein überall Verrath und Nachstellung
wilderndes Mißtrauen und daneben die Neigung zu widernatürlicher Vollere!
und Wollust hervorgegangen seien.

In dieselbe Klasse von Interpreten dieser grauenhaften Erscheinungen
der römischen Kaiserzeit gehört eine soeben erschienene Schrift des Osnabrücker
Irrenarztes Dr-. Wiedemeister, die den Titel führt: „Der Casa r en w a hn-
sinn der Julisch- Claudischen I aper a loren f am nie, geschildert
an den Kaisern Tiberius, Caligula. Claudius und Nero"**). Indeß sucht
der Verfasser derselben den Grund der geistigen Erkrankung jener Autokraten
in andern Verhältnissen als in ihrem plötzlichen Gelangen zur Weltherrschaft.




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*"
) Hannover, Verlag von Carl Rümpicr. 1875.
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[0135] Staaten"), so wird man erkennen, daß in der Union das christliche Leben nicht bloß auf die einzelnen Individuen und die einzelnen kirchlichen Vereine beschränkt ist, sondern sich auch in den öffentlichen Institutionen einen objek¬ tiven Ausdruck gegeben hat. Käsarenwahnsinn. Während früher die römischen Imperatoren von Tiberius bis auf Nero der Welt einfach als bewußte Bösewichter galten, ist in der letzten Zeit viel¬ fach eine andere, Auffassung ihres Wesens und Lebens geltend zu machen ver¬ sucht worden. Nach den Einen sollte das Bild, welches die alten Geschicht¬ schreiber und namentlich Tacitus von ihnen gezeichnet, an parteiischer Aus¬ fassung oder an Uebertreibung leiden und theilweise geradezu auf Verläum- dung hinaus laufen; nach den Andern waren die Greuel und Frevel, welche jene von ihnen berichten, zwar vollständig begründet, aber Handlungen von Geisteskranken, also weniger ein Gegenstand des Abscheus als des Mitleids. Bon jener Auffassung hat uns Herr Adolf Stahr vor einigen Jahren in seiner Biographie des Tiberius eine ungemein erheiternde Probe geliefert. Dieser huldigten u. A. in Betreff Caligula's Niebuhr und in Bezug auf jenen und seine nächsten Nachfolger Gregorovius. Man sprach von „Cäsarenwahn¬ sinn", den man sich damit erklärte, daß der Zufall jenen Männern die Herr¬ schaft über die Welt mit allen ihren Genüssen zu Füßen gelegt und sie da¬ durch, sowie durch die hündische Unterwürfigkeit und die Schmeichelei dieser Welt um ihren Verstand gebracht habe, woraus ein bis zur Selbstvergötterung gesteigerter ungeheuerlicher Egoismus, ein überall Verrath und Nachstellung wilderndes Mißtrauen und daneben die Neigung zu widernatürlicher Vollere! und Wollust hervorgegangen seien. In dieselbe Klasse von Interpreten dieser grauenhaften Erscheinungen der römischen Kaiserzeit gehört eine soeben erschienene Schrift des Osnabrücker Irrenarztes Dr-. Wiedemeister, die den Titel führt: „Der Casa r en w a hn- sinn der Julisch- Claudischen I aper a loren f am nie, geschildert an den Kaisern Tiberius, Caligula. Claudius und Nero"**). Indeß sucht der Verfasser derselben den Grund der geistigen Erkrankung jener Autokraten in andern Verhältnissen als in ihrem plötzlichen Gelangen zur Weltherrschaft. ") Schafs a. a, O. S. »0. *" ) Hannover, Verlag von Carl Rümpicr. 1875.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/135>, abgerufen am 22.07.2024.