Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Kirche vollzogen. Und die Freunde einer solchen berufen sich mit Vorliebe
auf die dort bestehenden Verhältnisse. Wie uns scheint, durchaus mit Unrecht.
Was wir Trennung von Staat und Kirche nennen, besteht in Nordamerika
keineswegs. Der Staat privilegirt dort freilich keine einzelne christliche De¬
nomination, aber er erklärt nicht formell, wohl aber thatsächlich die christliche
Kirche ohne Rücksicht auf ihre konfessionellen Sonderungen als Staatskirche.
Der Kongreß hält sich seinen eignen Kaplan, eröffnet jede Sitzung mit Gebet
und feiert im Senatssaal auf dem Capitol zu Washington einen sonntäg¬
lichen Gottesdienst. Kapläne werden ferner ernannt für Armee und Flotte.
Und in gewissem Sinne werden auch einzelne Confessionen bevorzugt.
Die Geistlichen, die hier funktioniren, gehören meistens der bischöflichen oder
presbyterianischer, mitunter auch der methodistischen Kirche an.*)

Auch die Staatschulen sind keineswegs absolut religionslos. "Lange Zeit
wurde die Bibel als tägliche Uebung gelesen, oder die Schulen wurden mit
dem Gesänge eines Kirchenliedes oder dem Aussagen eines Vaterunsers er¬
öffnet." Und diese Sitte ist nur theilweise jetzt verlassen oder modifizirt.
Der (noae ok pudlio Instruktion im Staate New-Uork bestimmt: "Das Ge¬
setz gestattet nicht, einen Theil der regelmäßigen Schulstunden zu religiösen
Uebungen, deren Besuch obligatorisch wäre, zu benutzen. Auf der andern
Seite hindert nichts das Lesen der Schrift oder die Vornahme andrer reli¬
giöser Uebungen Seitens des Lehrers mit denjenigen Schülern, die freiwillig
daran Theil nehmen wollen oder die von ihren Eltern oder Vormündern dazu
angehalten werden, vorausgesetzt, daß dies vor Anfang oder nach Schluß der
vorgeschriebenen Schulstunden geschieht." Und ein mit -den amerikanischen
Verhältnissen sehr vertrauter Schriftsteller fügt hinzu: "Der Lehrer ist sehr
wohl im Stande die historischen Theile der Bibelj, die Geschichte des Christen¬
thums und der anderen Religionen zu lehren, und ebenso, die Principien
der Ethik und die Regeln der Moral vorzutragen, wie diese sich unter dem
Einfluß der christlichen Civilisation entwickelt haben.""*)

Ferner, während die Gesammtverfassung der Union von der Forderung
religiöser Qualifikationen absieht, giebt es noch manche Einzelstaaten, welche
den Glauben an das Dasein eines Gottes und einen künftigen Zustand der
Belohnung und Bestrafung als Qualifikation zur Erlangung öffentlicher Aemter
und zur gerichtlichen Zeugnißfähigkeit fordern.***)

Erwägt man endlich die strengen Gesetze nicht bloß gegen Blasphemie,
sondern auch gegen Atheismus und Sonntagsentheiligung in den einzelnen





') Schafs, Amerika. Berlin 1854. S. <it".
*") Thompson, Kirche und Staat in den vereinigten Staaten von Nord-Amerika. Berlin
1873. S. 125 -- 7.
"") Thompson a. a. O. S. 1 -- 4.

Kirche vollzogen. Und die Freunde einer solchen berufen sich mit Vorliebe
auf die dort bestehenden Verhältnisse. Wie uns scheint, durchaus mit Unrecht.
Was wir Trennung von Staat und Kirche nennen, besteht in Nordamerika
keineswegs. Der Staat privilegirt dort freilich keine einzelne christliche De¬
nomination, aber er erklärt nicht formell, wohl aber thatsächlich die christliche
Kirche ohne Rücksicht auf ihre konfessionellen Sonderungen als Staatskirche.
Der Kongreß hält sich seinen eignen Kaplan, eröffnet jede Sitzung mit Gebet
und feiert im Senatssaal auf dem Capitol zu Washington einen sonntäg¬
lichen Gottesdienst. Kapläne werden ferner ernannt für Armee und Flotte.
Und in gewissem Sinne werden auch einzelne Confessionen bevorzugt.
Die Geistlichen, die hier funktioniren, gehören meistens der bischöflichen oder
presbyterianischer, mitunter auch der methodistischen Kirche an.*)

Auch die Staatschulen sind keineswegs absolut religionslos. „Lange Zeit
wurde die Bibel als tägliche Uebung gelesen, oder die Schulen wurden mit
dem Gesänge eines Kirchenliedes oder dem Aussagen eines Vaterunsers er¬
öffnet." Und diese Sitte ist nur theilweise jetzt verlassen oder modifizirt.
Der (noae ok pudlio Instruktion im Staate New-Uork bestimmt: „Das Ge¬
setz gestattet nicht, einen Theil der regelmäßigen Schulstunden zu religiösen
Uebungen, deren Besuch obligatorisch wäre, zu benutzen. Auf der andern
Seite hindert nichts das Lesen der Schrift oder die Vornahme andrer reli¬
giöser Uebungen Seitens des Lehrers mit denjenigen Schülern, die freiwillig
daran Theil nehmen wollen oder die von ihren Eltern oder Vormündern dazu
angehalten werden, vorausgesetzt, daß dies vor Anfang oder nach Schluß der
vorgeschriebenen Schulstunden geschieht." Und ein mit -den amerikanischen
Verhältnissen sehr vertrauter Schriftsteller fügt hinzu: „Der Lehrer ist sehr
wohl im Stande die historischen Theile der Bibelj, die Geschichte des Christen¬
thums und der anderen Religionen zu lehren, und ebenso, die Principien
der Ethik und die Regeln der Moral vorzutragen, wie diese sich unter dem
Einfluß der christlichen Civilisation entwickelt haben.""*)

Ferner, während die Gesammtverfassung der Union von der Forderung
religiöser Qualifikationen absieht, giebt es noch manche Einzelstaaten, welche
den Glauben an das Dasein eines Gottes und einen künftigen Zustand der
Belohnung und Bestrafung als Qualifikation zur Erlangung öffentlicher Aemter
und zur gerichtlichen Zeugnißfähigkeit fordern.***)

Erwägt man endlich die strengen Gesetze nicht bloß gegen Blasphemie,
sondern auch gegen Atheismus und Sonntagsentheiligung in den einzelnen





') Schafs, Amerika. Berlin 1854. S. <it».
*") Thompson, Kirche und Staat in den vereinigten Staaten von Nord-Amerika. Berlin
1873. S. 125 — 7.
»") Thompson a. a. O. S. 1 — 4.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0134" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/134480"/>
          <p xml:id="ID_371" prev="#ID_370"> Kirche vollzogen. Und die Freunde einer solchen berufen sich mit Vorliebe<lb/>
auf die dort bestehenden Verhältnisse. Wie uns scheint, durchaus mit Unrecht.<lb/>
Was wir Trennung von Staat und Kirche nennen, besteht in Nordamerika<lb/>
keineswegs. Der Staat privilegirt dort freilich keine einzelne christliche De¬<lb/>
nomination, aber er erklärt nicht formell, wohl aber thatsächlich die christliche<lb/>
Kirche ohne Rücksicht auf ihre konfessionellen Sonderungen als Staatskirche.<lb/>
Der Kongreß hält sich seinen eignen Kaplan, eröffnet jede Sitzung mit Gebet<lb/>
und feiert im Senatssaal auf dem Capitol zu Washington einen sonntäg¬<lb/>
lichen Gottesdienst. Kapläne werden ferner ernannt für Armee und Flotte.<lb/>
Und in gewissem Sinne werden auch einzelne Confessionen bevorzugt.<lb/>
Die Geistlichen, die hier funktioniren, gehören meistens der bischöflichen oder<lb/>
presbyterianischer, mitunter auch der methodistischen Kirche an.*)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_372"> Auch die Staatschulen sind keineswegs absolut religionslos. &#x201E;Lange Zeit<lb/>
wurde die Bibel als tägliche Uebung gelesen, oder die Schulen wurden mit<lb/>
dem Gesänge eines Kirchenliedes oder dem Aussagen eines Vaterunsers er¬<lb/>
öffnet." Und diese Sitte ist nur theilweise jetzt verlassen oder modifizirt.<lb/>
Der (noae ok pudlio Instruktion im Staate New-Uork bestimmt: &#x201E;Das Ge¬<lb/>
setz gestattet nicht, einen Theil der regelmäßigen Schulstunden zu religiösen<lb/>
Uebungen, deren Besuch obligatorisch wäre, zu benutzen. Auf der andern<lb/>
Seite hindert nichts das Lesen der Schrift oder die Vornahme andrer reli¬<lb/>
giöser Uebungen Seitens des Lehrers mit denjenigen Schülern, die freiwillig<lb/>
daran Theil nehmen wollen oder die von ihren Eltern oder Vormündern dazu<lb/>
angehalten werden, vorausgesetzt, daß dies vor Anfang oder nach Schluß der<lb/>
vorgeschriebenen Schulstunden geschieht." Und ein mit -den amerikanischen<lb/>
Verhältnissen sehr vertrauter Schriftsteller fügt hinzu: &#x201E;Der Lehrer ist sehr<lb/>
wohl im Stande die historischen Theile der Bibelj, die Geschichte des Christen¬<lb/>
thums und der anderen Religionen zu lehren, und ebenso, die Principien<lb/>
der Ethik und die Regeln der Moral vorzutragen, wie diese sich unter dem<lb/>
Einfluß der christlichen Civilisation entwickelt haben.""*)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_373"> Ferner, während die Gesammtverfassung der Union von der Forderung<lb/>
religiöser Qualifikationen absieht, giebt es noch manche Einzelstaaten, welche<lb/>
den Glauben an das Dasein eines Gottes und einen künftigen Zustand der<lb/>
Belohnung und Bestrafung als Qualifikation zur Erlangung öffentlicher Aemter<lb/>
und zur gerichtlichen Zeugnißfähigkeit fordern.***)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_374" next="#ID_375"> Erwägt man endlich die strengen Gesetze nicht bloß gegen Blasphemie,<lb/>
sondern auch gegen Atheismus und Sonntagsentheiligung in den einzelnen</p><lb/>
          <note xml:id="FID_73" place="foot"> ') Schafs, Amerika. Berlin 1854. S. &lt;it».</note><lb/>
          <note xml:id="FID_74" place="foot"> *") Thompson, Kirche und Staat in den vereinigten Staaten von Nord-Amerika. Berlin<lb/>
1873.  S. 125 &#x2014; 7.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_75" place="foot"> »") Thompson a. a. O. S. 1 &#x2014; 4.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0134] Kirche vollzogen. Und die Freunde einer solchen berufen sich mit Vorliebe auf die dort bestehenden Verhältnisse. Wie uns scheint, durchaus mit Unrecht. Was wir Trennung von Staat und Kirche nennen, besteht in Nordamerika keineswegs. Der Staat privilegirt dort freilich keine einzelne christliche De¬ nomination, aber er erklärt nicht formell, wohl aber thatsächlich die christliche Kirche ohne Rücksicht auf ihre konfessionellen Sonderungen als Staatskirche. Der Kongreß hält sich seinen eignen Kaplan, eröffnet jede Sitzung mit Gebet und feiert im Senatssaal auf dem Capitol zu Washington einen sonntäg¬ lichen Gottesdienst. Kapläne werden ferner ernannt für Armee und Flotte. Und in gewissem Sinne werden auch einzelne Confessionen bevorzugt. Die Geistlichen, die hier funktioniren, gehören meistens der bischöflichen oder presbyterianischer, mitunter auch der methodistischen Kirche an.*) Auch die Staatschulen sind keineswegs absolut religionslos. „Lange Zeit wurde die Bibel als tägliche Uebung gelesen, oder die Schulen wurden mit dem Gesänge eines Kirchenliedes oder dem Aussagen eines Vaterunsers er¬ öffnet." Und diese Sitte ist nur theilweise jetzt verlassen oder modifizirt. Der (noae ok pudlio Instruktion im Staate New-Uork bestimmt: „Das Ge¬ setz gestattet nicht, einen Theil der regelmäßigen Schulstunden zu religiösen Uebungen, deren Besuch obligatorisch wäre, zu benutzen. Auf der andern Seite hindert nichts das Lesen der Schrift oder die Vornahme andrer reli¬ giöser Uebungen Seitens des Lehrers mit denjenigen Schülern, die freiwillig daran Theil nehmen wollen oder die von ihren Eltern oder Vormündern dazu angehalten werden, vorausgesetzt, daß dies vor Anfang oder nach Schluß der vorgeschriebenen Schulstunden geschieht." Und ein mit -den amerikanischen Verhältnissen sehr vertrauter Schriftsteller fügt hinzu: „Der Lehrer ist sehr wohl im Stande die historischen Theile der Bibelj, die Geschichte des Christen¬ thums und der anderen Religionen zu lehren, und ebenso, die Principien der Ethik und die Regeln der Moral vorzutragen, wie diese sich unter dem Einfluß der christlichen Civilisation entwickelt haben.""*) Ferner, während die Gesammtverfassung der Union von der Forderung religiöser Qualifikationen absieht, giebt es noch manche Einzelstaaten, welche den Glauben an das Dasein eines Gottes und einen künftigen Zustand der Belohnung und Bestrafung als Qualifikation zur Erlangung öffentlicher Aemter und zur gerichtlichen Zeugnißfähigkeit fordern.***) Erwägt man endlich die strengen Gesetze nicht bloß gegen Blasphemie, sondern auch gegen Atheismus und Sonntagsentheiligung in den einzelnen ') Schafs, Amerika. Berlin 1854. S. <it». *") Thompson, Kirche und Staat in den vereinigten Staaten von Nord-Amerika. Berlin 1873. S. 125 — 7. »") Thompson a. a. O. S. 1 — 4.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/134
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/134>, abgerufen am 22.07.2024.