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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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land heraus; sie unterhalten zahlreiche Neiseagenten, veröffentlichen eine Menge
Flugschriften und Bücher, belehrender wie unterhaltender Tendenz; sie veran¬
lassen die Arbeiter zu Arbeitseinstellungen und zu anderen die Arbeitgeber
schädigenden Handlungen, welche ohne ihre Mitwirkung nicht geschehen würden.
Außer den Ultramontanen sind die Socialisten die einzige Partei, welche einen
weitreichenden Einfluß auf die arbeitenden Klassen besitzt; hinter ihnen steht
die von gemäßigten und versöhnlichen Grundsätzen ausgehende Partei der von
or. Max Hirsch geleiteten Gewerkvereine erheblich zurück. Mag die Zahl der
von den socialistischen Führern abhängigen Arbeiter auch nicht so groß sein,
als diese selbst angeben; es bleibt immerhin eine beachtenswerthe und zum
Nachdenken auffordernde Thatsache, daß einer in ihren Zielen und in ihren
Mitteln durchaus unsittlichen Partei Hunderttausende von deutschen Arbeitern
fast unbedingten Gehorsam leisten. Sind alle diese Arbeiter selbst in ihren
sittlichen Begriffen wirklich so verwirrt, daß sie die von der Socialdemokratie
eingeschlagenen Wege für gute und berechtigte halten? Meiner Ueberzeugung
nach kann man diese Frage durchaus nicht bejahen. Allerdings ist es unge¬
mein schwer, über den sittlichen Gesammtzustand einer Bevölkerungsklasse ein
sicheres Urtheil zu fällen. Wir besitzen keinen einheitlichen Maßstab, nach
welchem sich die Sittlichkeit auch nur eines einzelnen Menschen, geschweige
denn die einer ganzen, Millionen von Individuen umfassenden Gesellschafts¬
gruppe feststellen ließe. Geht man auch davon aus, daß die Sittlichkeit sich
in der Religiosität concentrire und daß deshalb die vorhandene religiöse Ent¬
wicklung einen Gradmesser für den sittlichen Zustand bilde, so wird man da¬
durch dem erstrebten Ziele um Nichts näher geführt; denn die Religiosität ist
etwas wesentlich Inneres, an äußeren Manifestationen nicht sicher Erkenn¬
bares. Nur auf Umwegen und durch vergleichende Betrachtung einer Reihe
verschiedenartiger Thatsachen können wir zu einem ungefähren Schluß über die
Sittlichkeit der niederen Volksklassen gelangen.

Bis zum Beginn der socialpolitischen Agitation Lasalle'falso bis zum
Jahre 1863, hatte die Socialdemokratie unter den deutschen Arbeitern so gut
wie gar keinen Boden. Bei Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften
folgten die Arbeiter der von ihren Arbeitgebern oder der von der liberalen
oder der conservativen Partei ausgegebenen Parole. Als durch das Auftreten
Lasalle's die bis dahin fast ohnmächtige Socialdemokratie neues Leben gewonnen,
fielen die Arbeiter eist vereinzelt, dann in größeren Massen von den Führern,
welche sie bisher geleitet, ab und wendeten sich dem ihnen goldene Berge ver¬
heißenden Socialismus zu.

Aber es geschah dies keineswegs überall in Deutschland gleichmäßig. Zu¬
nächst ist zu constariren, daß die Socialdemokratie nirgends festen Fuß gefaßt
hat, wo der Ultramontanismus herrscht. Bei dicht an einander grenzen-


land heraus; sie unterhalten zahlreiche Neiseagenten, veröffentlichen eine Menge
Flugschriften und Bücher, belehrender wie unterhaltender Tendenz; sie veran¬
lassen die Arbeiter zu Arbeitseinstellungen und zu anderen die Arbeitgeber
schädigenden Handlungen, welche ohne ihre Mitwirkung nicht geschehen würden.
Außer den Ultramontanen sind die Socialisten die einzige Partei, welche einen
weitreichenden Einfluß auf die arbeitenden Klassen besitzt; hinter ihnen steht
die von gemäßigten und versöhnlichen Grundsätzen ausgehende Partei der von
or. Max Hirsch geleiteten Gewerkvereine erheblich zurück. Mag die Zahl der
von den socialistischen Führern abhängigen Arbeiter auch nicht so groß sein,
als diese selbst angeben; es bleibt immerhin eine beachtenswerthe und zum
Nachdenken auffordernde Thatsache, daß einer in ihren Zielen und in ihren
Mitteln durchaus unsittlichen Partei Hunderttausende von deutschen Arbeitern
fast unbedingten Gehorsam leisten. Sind alle diese Arbeiter selbst in ihren
sittlichen Begriffen wirklich so verwirrt, daß sie die von der Socialdemokratie
eingeschlagenen Wege für gute und berechtigte halten? Meiner Ueberzeugung
nach kann man diese Frage durchaus nicht bejahen. Allerdings ist es unge¬
mein schwer, über den sittlichen Gesammtzustand einer Bevölkerungsklasse ein
sicheres Urtheil zu fällen. Wir besitzen keinen einheitlichen Maßstab, nach
welchem sich die Sittlichkeit auch nur eines einzelnen Menschen, geschweige
denn die einer ganzen, Millionen von Individuen umfassenden Gesellschafts¬
gruppe feststellen ließe. Geht man auch davon aus, daß die Sittlichkeit sich
in der Religiosität concentrire und daß deshalb die vorhandene religiöse Ent¬
wicklung einen Gradmesser für den sittlichen Zustand bilde, so wird man da¬
durch dem erstrebten Ziele um Nichts näher geführt; denn die Religiosität ist
etwas wesentlich Inneres, an äußeren Manifestationen nicht sicher Erkenn¬
bares. Nur auf Umwegen und durch vergleichende Betrachtung einer Reihe
verschiedenartiger Thatsachen können wir zu einem ungefähren Schluß über die
Sittlichkeit der niederen Volksklassen gelangen.

Bis zum Beginn der socialpolitischen Agitation Lasalle'falso bis zum
Jahre 1863, hatte die Socialdemokratie unter den deutschen Arbeitern so gut
wie gar keinen Boden. Bei Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften
folgten die Arbeiter der von ihren Arbeitgebern oder der von der liberalen
oder der conservativen Partei ausgegebenen Parole. Als durch das Auftreten
Lasalle's die bis dahin fast ohnmächtige Socialdemokratie neues Leben gewonnen,
fielen die Arbeiter eist vereinzelt, dann in größeren Massen von den Führern,
welche sie bisher geleitet, ab und wendeten sich dem ihnen goldene Berge ver¬
heißenden Socialismus zu.

Aber es geschah dies keineswegs überall in Deutschland gleichmäßig. Zu¬
nächst ist zu constariren, daß die Socialdemokratie nirgends festen Fuß gefaßt
hat, wo der Ultramontanismus herrscht. Bei dicht an einander grenzen-


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[0052] land heraus; sie unterhalten zahlreiche Neiseagenten, veröffentlichen eine Menge Flugschriften und Bücher, belehrender wie unterhaltender Tendenz; sie veran¬ lassen die Arbeiter zu Arbeitseinstellungen und zu anderen die Arbeitgeber schädigenden Handlungen, welche ohne ihre Mitwirkung nicht geschehen würden. Außer den Ultramontanen sind die Socialisten die einzige Partei, welche einen weitreichenden Einfluß auf die arbeitenden Klassen besitzt; hinter ihnen steht die von gemäßigten und versöhnlichen Grundsätzen ausgehende Partei der von or. Max Hirsch geleiteten Gewerkvereine erheblich zurück. Mag die Zahl der von den socialistischen Führern abhängigen Arbeiter auch nicht so groß sein, als diese selbst angeben; es bleibt immerhin eine beachtenswerthe und zum Nachdenken auffordernde Thatsache, daß einer in ihren Zielen und in ihren Mitteln durchaus unsittlichen Partei Hunderttausende von deutschen Arbeitern fast unbedingten Gehorsam leisten. Sind alle diese Arbeiter selbst in ihren sittlichen Begriffen wirklich so verwirrt, daß sie die von der Socialdemokratie eingeschlagenen Wege für gute und berechtigte halten? Meiner Ueberzeugung nach kann man diese Frage durchaus nicht bejahen. Allerdings ist es unge¬ mein schwer, über den sittlichen Gesammtzustand einer Bevölkerungsklasse ein sicheres Urtheil zu fällen. Wir besitzen keinen einheitlichen Maßstab, nach welchem sich die Sittlichkeit auch nur eines einzelnen Menschen, geschweige denn die einer ganzen, Millionen von Individuen umfassenden Gesellschafts¬ gruppe feststellen ließe. Geht man auch davon aus, daß die Sittlichkeit sich in der Religiosität concentrire und daß deshalb die vorhandene religiöse Ent¬ wicklung einen Gradmesser für den sittlichen Zustand bilde, so wird man da¬ durch dem erstrebten Ziele um Nichts näher geführt; denn die Religiosität ist etwas wesentlich Inneres, an äußeren Manifestationen nicht sicher Erkenn¬ bares. Nur auf Umwegen und durch vergleichende Betrachtung einer Reihe verschiedenartiger Thatsachen können wir zu einem ungefähren Schluß über die Sittlichkeit der niederen Volksklassen gelangen. Bis zum Beginn der socialpolitischen Agitation Lasalle'falso bis zum Jahre 1863, hatte die Socialdemokratie unter den deutschen Arbeitern so gut wie gar keinen Boden. Bei Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften folgten die Arbeiter der von ihren Arbeitgebern oder der von der liberalen oder der conservativen Partei ausgegebenen Parole. Als durch das Auftreten Lasalle's die bis dahin fast ohnmächtige Socialdemokratie neues Leben gewonnen, fielen die Arbeiter eist vereinzelt, dann in größeren Massen von den Führern, welche sie bisher geleitet, ab und wendeten sich dem ihnen goldene Berge ver¬ heißenden Socialismus zu. Aber es geschah dies keineswegs überall in Deutschland gleichmäßig. Zu¬ nächst ist zu constariren, daß die Socialdemokratie nirgends festen Fuß gefaßt hat, wo der Ultramontanismus herrscht. Bei dicht an einander grenzen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/52>, abgerufen am 06.02.2025.