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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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den Bezirken werden die Arbeiter in dem einen durch die Socialisten geleitet,
welche von der Vernichtung jeder positiven Religion den Sieg ihrer Sache ab¬
hängig machen, in dem anderen durch die Ultramontanen, welche das Heil der
Welt von dem Glauben an die alleinseligmachende Kirche und an den unfehl¬
baren Papst erwarten. Daraus den Schluß ziehen zu wollen, daß die Ar¬
beiter hier besonders religiös und sittlich, dort aber besonders irreligiös und
unsittlich seien, würde ganz verkehrt sein; wir müssen vielmehr nach Lage der
Sache zu dem für unsere Betrachtung wichtigen Resultat gelangen, daß nicht
die religionsfeindliche Tendenz des Socialismus dasjenige ist, was so viele
Arbeiter demselben zuführt.

Weiter verdient hervorgehoben zu werden, worauf auch Treitschke schon
hingewiesen hat. daß die Socialdemokratie nur in einzelnen Theilen Deutsch¬
lands einen bedeutenden Prozentsatz der Arbeiterklasse zu gewinnen vermocht
hat. Es sind dies einige Volk- und industriereiche Städte wie Berlin, Ham¬
burg, Elberfeld-Barmer, und dann deutsche Länder oder Landestheile, deren
politisches Leben in den letzten Jahrzehnten sich unter abnormen, ungesunden
Verhältnissen entwickelte; so namentlich das Königreich Sachsen, Hannover,
Schleswig-Holstein, in geringerem Maße auch die thüringischen Staaten. Daß
große Städte, in welchen so mancherlei Volk zusammenläuft und unreine
Elemente am leichtesten unentlarvt ihr gewissenloses Spiel treiben können, für
socialistische Agitationen ein besonders dankbares Feld abgeben, bedarf keiner
weiteren Erklärung. Wunderbar aber könnte es erscheinen, daß der gut¬
müthige Sachse, der harmlose Thüringer oder der von Natur zum Fleiß, zur
Ausdauer und Ordnung geneigte holsteinische Landarbeiter für socialistische
Tendenzen besonders empfänglich sich zeigen. Es liegt durchaus kein Grund
zu der Annahme vor, als ob die Arbeiter grade dieser Distrikte an einer
hervorragend großen Verwirrung ihrer sittlichen Begriffe oder gar an einer,
schon durch die That sich dokumentirenden sittlichen Verkommenheit litten.
Nein, die wirklichen Verhältnisse sprechen keineswegs zu Ungunsten grade dieser
Arbeiter, eher ist noch das Gegentheil der Fall. Von der Unsittlichkeit der
mecklenburgischen Gutstagelöhner wurde früher, theils mit Recht theils mit
Unrecht, viel gesprochen; der holsteinische Gutstagelöhner galt dagegen für
einen verhältnißmäßig sehr sittlichen Arbeiter. Mag der wirkliche Unterschied
auch nicht so groß gewesen sein, wie er in den Augen Mancher sich darstellte,
immerhin darf man aus der Thatsache, daß unter den holsteinischen Guts¬
tagelöhnern der Socialismus so weite Verbreitung, unter den mecklenburgi¬
schen Tagelöhnern dagegen gar keinen Anklang gefunden hat, den Schluß
ziehen, daß es nicht die unsittlichen Principien der Socialdemokratie sind,
welche die Arbeiter zu derselben hinziehen oder von ihr fernhalten.

Bei der Bearbeitung der vom Congreß deutscher Landwirthe unternom-


Grcnzboten II. 187S. 7

den Bezirken werden die Arbeiter in dem einen durch die Socialisten geleitet,
welche von der Vernichtung jeder positiven Religion den Sieg ihrer Sache ab¬
hängig machen, in dem anderen durch die Ultramontanen, welche das Heil der
Welt von dem Glauben an die alleinseligmachende Kirche und an den unfehl¬
baren Papst erwarten. Daraus den Schluß ziehen zu wollen, daß die Ar¬
beiter hier besonders religiös und sittlich, dort aber besonders irreligiös und
unsittlich seien, würde ganz verkehrt sein; wir müssen vielmehr nach Lage der
Sache zu dem für unsere Betrachtung wichtigen Resultat gelangen, daß nicht
die religionsfeindliche Tendenz des Socialismus dasjenige ist, was so viele
Arbeiter demselben zuführt.

Weiter verdient hervorgehoben zu werden, worauf auch Treitschke schon
hingewiesen hat. daß die Socialdemokratie nur in einzelnen Theilen Deutsch¬
lands einen bedeutenden Prozentsatz der Arbeiterklasse zu gewinnen vermocht
hat. Es sind dies einige Volk- und industriereiche Städte wie Berlin, Ham¬
burg, Elberfeld-Barmer, und dann deutsche Länder oder Landestheile, deren
politisches Leben in den letzten Jahrzehnten sich unter abnormen, ungesunden
Verhältnissen entwickelte; so namentlich das Königreich Sachsen, Hannover,
Schleswig-Holstein, in geringerem Maße auch die thüringischen Staaten. Daß
große Städte, in welchen so mancherlei Volk zusammenläuft und unreine
Elemente am leichtesten unentlarvt ihr gewissenloses Spiel treiben können, für
socialistische Agitationen ein besonders dankbares Feld abgeben, bedarf keiner
weiteren Erklärung. Wunderbar aber könnte es erscheinen, daß der gut¬
müthige Sachse, der harmlose Thüringer oder der von Natur zum Fleiß, zur
Ausdauer und Ordnung geneigte holsteinische Landarbeiter für socialistische
Tendenzen besonders empfänglich sich zeigen. Es liegt durchaus kein Grund
zu der Annahme vor, als ob die Arbeiter grade dieser Distrikte an einer
hervorragend großen Verwirrung ihrer sittlichen Begriffe oder gar an einer,
schon durch die That sich dokumentirenden sittlichen Verkommenheit litten.
Nein, die wirklichen Verhältnisse sprechen keineswegs zu Ungunsten grade dieser
Arbeiter, eher ist noch das Gegentheil der Fall. Von der Unsittlichkeit der
mecklenburgischen Gutstagelöhner wurde früher, theils mit Recht theils mit
Unrecht, viel gesprochen; der holsteinische Gutstagelöhner galt dagegen für
einen verhältnißmäßig sehr sittlichen Arbeiter. Mag der wirkliche Unterschied
auch nicht so groß gewesen sein, wie er in den Augen Mancher sich darstellte,
immerhin darf man aus der Thatsache, daß unter den holsteinischen Guts¬
tagelöhnern der Socialismus so weite Verbreitung, unter den mecklenburgi¬
schen Tagelöhnern dagegen gar keinen Anklang gefunden hat, den Schluß
ziehen, daß es nicht die unsittlichen Principien der Socialdemokratie sind,
welche die Arbeiter zu derselben hinziehen oder von ihr fernhalten.

Bei der Bearbeitung der vom Congreß deutscher Landwirthe unternom-


Grcnzboten II. 187S. 7
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[0053] den Bezirken werden die Arbeiter in dem einen durch die Socialisten geleitet, welche von der Vernichtung jeder positiven Religion den Sieg ihrer Sache ab¬ hängig machen, in dem anderen durch die Ultramontanen, welche das Heil der Welt von dem Glauben an die alleinseligmachende Kirche und an den unfehl¬ baren Papst erwarten. Daraus den Schluß ziehen zu wollen, daß die Ar¬ beiter hier besonders religiös und sittlich, dort aber besonders irreligiös und unsittlich seien, würde ganz verkehrt sein; wir müssen vielmehr nach Lage der Sache zu dem für unsere Betrachtung wichtigen Resultat gelangen, daß nicht die religionsfeindliche Tendenz des Socialismus dasjenige ist, was so viele Arbeiter demselben zuführt. Weiter verdient hervorgehoben zu werden, worauf auch Treitschke schon hingewiesen hat. daß die Socialdemokratie nur in einzelnen Theilen Deutsch¬ lands einen bedeutenden Prozentsatz der Arbeiterklasse zu gewinnen vermocht hat. Es sind dies einige Volk- und industriereiche Städte wie Berlin, Ham¬ burg, Elberfeld-Barmer, und dann deutsche Länder oder Landestheile, deren politisches Leben in den letzten Jahrzehnten sich unter abnormen, ungesunden Verhältnissen entwickelte; so namentlich das Königreich Sachsen, Hannover, Schleswig-Holstein, in geringerem Maße auch die thüringischen Staaten. Daß große Städte, in welchen so mancherlei Volk zusammenläuft und unreine Elemente am leichtesten unentlarvt ihr gewissenloses Spiel treiben können, für socialistische Agitationen ein besonders dankbares Feld abgeben, bedarf keiner weiteren Erklärung. Wunderbar aber könnte es erscheinen, daß der gut¬ müthige Sachse, der harmlose Thüringer oder der von Natur zum Fleiß, zur Ausdauer und Ordnung geneigte holsteinische Landarbeiter für socialistische Tendenzen besonders empfänglich sich zeigen. Es liegt durchaus kein Grund zu der Annahme vor, als ob die Arbeiter grade dieser Distrikte an einer hervorragend großen Verwirrung ihrer sittlichen Begriffe oder gar an einer, schon durch die That sich dokumentirenden sittlichen Verkommenheit litten. Nein, die wirklichen Verhältnisse sprechen keineswegs zu Ungunsten grade dieser Arbeiter, eher ist noch das Gegentheil der Fall. Von der Unsittlichkeit der mecklenburgischen Gutstagelöhner wurde früher, theils mit Recht theils mit Unrecht, viel gesprochen; der holsteinische Gutstagelöhner galt dagegen für einen verhältnißmäßig sehr sittlichen Arbeiter. Mag der wirkliche Unterschied auch nicht so groß gewesen sein, wie er in den Augen Mancher sich darstellte, immerhin darf man aus der Thatsache, daß unter den holsteinischen Guts¬ tagelöhnern der Socialismus so weite Verbreitung, unter den mecklenburgi¬ schen Tagelöhnern dagegen gar keinen Anklang gefunden hat, den Schluß ziehen, daß es nicht die unsittlichen Principien der Socialdemokratie sind, welche die Arbeiter zu derselben hinziehen oder von ihr fernhalten. Bei der Bearbeitung der vom Congreß deutscher Landwirthe unternom- Grcnzboten II. 187S. 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/53>, abgerufen am 06.02.2025.