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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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und den Arbeitgebern zu begründen, als unnütz und wirkungslos dar. Sie
laden dadurch den berechtigten Vorwurf auf sich, daß es ihnen nicht darum
zu thun ist, das Wohl der arbeitenden Klasse zu fördern, sondern die Kluft
zwischen dieser und den übrigen Volksklassen möglichst zu vergrößern und die
gegenseitige Erbitterung zu steigern. Der ganze moderne Socialismus leidet
an innerer Unwahrheit. Er giebt vor für die Freiheit zu kämpfen,
während die socialistischen Führer eine despotische Gewalt über die ihnen
folgende Menge ausüben und gleichzeitig eine gewaltsame Unterdrückung aller
ihrer Gegner befürworten. Der Socialismus strebt anscheinend nach geistiger
Aufklärung der unteren Volksklassen, sucht aber trotzdem den Gebrauch aller
der Mittel, welche zur Bildung des Geistes dienen können, den Arbeitern zu
verleiden. Der Socialismus verdammt den Luxus und die Ueppigkeit reicher
Leute und stellt dabei doch den Sinnengenuß als das am meisten zu erstre¬
bende Gut hin. Der Socialismus vertritt das Princip der Brüderlichkeit
während er gleichzeitig bei den Arbeitern das wilde Feuer des Hasses und
Neides gegen die übrigen Volksklassen anschürt und jeden Versuch bekämpft,
eine Annäherung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern herbeizuführen.
Der Socialismus verlangt endlich eine Gleichheit aller Menschen: dieselbe soll
aber darin bestehen, daß der fleißige, begabte, vorwärts strebende Mann auf
die Früchte seiner Arbeit zu Gunsten seiner trägeren Mitmenschen zu verzichten
gezwungen wird.

Die Verwirklichung der socialistischen Principien, wenn sie überhaupt
möglich wäre, würde zur Auflösung aller gesellschaftlichen und staatlichen
Ordnung sowie zur Vernichtung aller im Laufe der Jahrhunderte durch müh¬
same Arbeit errungenen Schätze an Wohlstand, Bildung und Gesittung un¬
zweifelhaft führen; sie würde einen Zustand der Barbarei zur Folge haben
schlimmer als ihn die Geschichte uns je überliefert hat. Der moderne Socialis¬
mus ist deshalb im eminentester Sinne des Wortes unsittlich und keine Rück¬
sicht darf den gewissenhaften, für das Wohl seines Volkes besorgten Mann
abhalten, dies Urtheil unumwunden auszusprechen.

Wie verhalten sich nun unsere Arbeiter zu den Agitationen der Social¬
demokratie? Bei den letzten Reichstagswahlen sielen nach den Angaben
Treitschke's 339,738 Stimmen auf socialdemokratische Kandidaten; dieselben
repräsentiren 6,ö°/o aller abgegebenen Wahlstimmen. In einzelnen deutschen
Ländern oder Landestheilen machten freilich die socialdemokratischen Stimmen
einen viel größeren Bruchtheil aller abgegebenen Stimmen aus, so im König¬
reich Sachsen 36,2"/", in Schleswig-Holstein 35.5°/", in der Provinz Hannover
L5,l"/o! dem entsprechend blieben in anderen Distrikten die socialdemokrati¬
schen Stimmen unter'dem Durchschnitt von 6'/z "/<> Prozent mehr oder weniger
weit zurück. Die Socialdemokraten geben über zwanzig Zeitungen in Deutsch-


und den Arbeitgebern zu begründen, als unnütz und wirkungslos dar. Sie
laden dadurch den berechtigten Vorwurf auf sich, daß es ihnen nicht darum
zu thun ist, das Wohl der arbeitenden Klasse zu fördern, sondern die Kluft
zwischen dieser und den übrigen Volksklassen möglichst zu vergrößern und die
gegenseitige Erbitterung zu steigern. Der ganze moderne Socialismus leidet
an innerer Unwahrheit. Er giebt vor für die Freiheit zu kämpfen,
während die socialistischen Führer eine despotische Gewalt über die ihnen
folgende Menge ausüben und gleichzeitig eine gewaltsame Unterdrückung aller
ihrer Gegner befürworten. Der Socialismus strebt anscheinend nach geistiger
Aufklärung der unteren Volksklassen, sucht aber trotzdem den Gebrauch aller
der Mittel, welche zur Bildung des Geistes dienen können, den Arbeitern zu
verleiden. Der Socialismus verdammt den Luxus und die Ueppigkeit reicher
Leute und stellt dabei doch den Sinnengenuß als das am meisten zu erstre¬
bende Gut hin. Der Socialismus vertritt das Princip der Brüderlichkeit
während er gleichzeitig bei den Arbeitern das wilde Feuer des Hasses und
Neides gegen die übrigen Volksklassen anschürt und jeden Versuch bekämpft,
eine Annäherung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern herbeizuführen.
Der Socialismus verlangt endlich eine Gleichheit aller Menschen: dieselbe soll
aber darin bestehen, daß der fleißige, begabte, vorwärts strebende Mann auf
die Früchte seiner Arbeit zu Gunsten seiner trägeren Mitmenschen zu verzichten
gezwungen wird.

Die Verwirklichung der socialistischen Principien, wenn sie überhaupt
möglich wäre, würde zur Auflösung aller gesellschaftlichen und staatlichen
Ordnung sowie zur Vernichtung aller im Laufe der Jahrhunderte durch müh¬
same Arbeit errungenen Schätze an Wohlstand, Bildung und Gesittung un¬
zweifelhaft führen; sie würde einen Zustand der Barbarei zur Folge haben
schlimmer als ihn die Geschichte uns je überliefert hat. Der moderne Socialis¬
mus ist deshalb im eminentester Sinne des Wortes unsittlich und keine Rück¬
sicht darf den gewissenhaften, für das Wohl seines Volkes besorgten Mann
abhalten, dies Urtheil unumwunden auszusprechen.

Wie verhalten sich nun unsere Arbeiter zu den Agitationen der Social¬
demokratie? Bei den letzten Reichstagswahlen sielen nach den Angaben
Treitschke's 339,738 Stimmen auf socialdemokratische Kandidaten; dieselben
repräsentiren 6,ö°/o aller abgegebenen Wahlstimmen. In einzelnen deutschen
Ländern oder Landestheilen machten freilich die socialdemokratischen Stimmen
einen viel größeren Bruchtheil aller abgegebenen Stimmen aus, so im König¬
reich Sachsen 36,2«/«, in Schleswig-Holstein 35.5°/», in der Provinz Hannover
L5,l"/o! dem entsprechend blieben in anderen Distrikten die socialdemokrati¬
schen Stimmen unter'dem Durchschnitt von 6'/z "/<> Prozent mehr oder weniger
weit zurück. Die Socialdemokraten geben über zwanzig Zeitungen in Deutsch-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/51>, abgerufen am 06.02.2025.