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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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hoffte er, diese vereinzelt schlagen zu können. Die Grenzfestun¬
gen und der Anmarsch sämmtlicher Corps kurz vor dem festgestellten Termin
des Angriffs boten ihm die Mittel, den Vereinigungspunkt seiner Armee sehr
lange verbergen und überraschend in Belgien einbrechen zu können. Er be¬
schloß, seine Operationsrichtung auf die Mitte der strategischen Front des
Feindes ungefähr dahin zu richten, wo die englische und preußische Aufstel¬
lung zusammenstießen. Wenn es ihm gelang, hier mit relativer Uebermacht
wie ein Keil einzudringen und die feindlichen Heere auseinander zu halten,
so durfte er hoffen, die preußische Armee in Richtung auf den Rhein, die
Engländer nach Antwerpen zum Rückzüge zu zwingen. Jedem einzelnen
der beiden Heere war Napoleon numerisch überlegen, dagegen den vereinig¬
ten Armeen auch schon in Belgien nicht gewachsen.

Die wahrscheinlichste Straße für den Anmarsch des Kaisers war die von
Maubeuge auf Nivelles und Brüssel; er aber beschloß, sich schon südlich der
Sambre mehr rechts gegen den linken preußischen Flügel zu wenden, wahr-
scheinlich um sich zugleich den von Rocroy und Metz kommenden Truppen
zu nähern.

Am 14. Juni meldete General Pirch die Bereinigung des französischen
Heeres in der Gegend von Beaumont, also vor der Front des I. Armee-
Corps (Zieten); ähnliche Nachrichten liefen von mehreren Seiten ein, und es
ist merkwürdig, daß Gneisenau es dennoch für zulässig hielt, mit der Con-
centration der Armee noch zu zögern. Das unzerstörbare Gefühl der Sicher¬
heit Wellingtons scheint von Brüssel hinübergewirkt zu haben nach Namur.
Erst in der Nacht zum 15., als ganz unwidersprechliche Zeugnisse einliefen
von der Absicht Napoleons, folgenden Tags anzugreifen, erließ Gneisenau
Persönlich, ohne Blücher wecken zu lassen, die Aufforderung an die Comman¬
deurs, ihre Corps zu concentriren. und zwar das II. bei Onoz und Mazy
das III. bei Namur, das IV. bei Hannut. So wurde die Armee noch in der
letzten Stunde -- um Mitternacht -- zum Angriff vorbereitet und ein
eigentlicher strategischer Ueberfall verhindert.

Die Disposition Napoleons für den 13. Juni trägt den Charakter großer
Vorsicht. Die ganze Armee war südlich der Sambre auf einen einzigen
Punkt, Charleroi, dirigirt, wahrscheinlich weil der Kaiser nördlich der Sam¬
bre feindliche Streitkräfte voraussetzte, zu deren Überwältigung die getrenn¬
ten Teten mehrerer, Colonnen nicht ausreichen würden, vielleicht auch, um die
Engländer in ihrer Kantonnirungen nicht aufzustören. -- Für den General
Zieten, auf dessen Armee-Corps (I). der Anmarsch des Kaisers stieß, war
dieser Umstand günstig, weil nur eine preußische Brigade südlich der Sainbie
stand und dein überlegenen Mcissenan griffe des Feindes zu entziehen war.


Grenzboten II. 1875". 57

hoffte er, diese vereinzelt schlagen zu können. Die Grenzfestun¬
gen und der Anmarsch sämmtlicher Corps kurz vor dem festgestellten Termin
des Angriffs boten ihm die Mittel, den Vereinigungspunkt seiner Armee sehr
lange verbergen und überraschend in Belgien einbrechen zu können. Er be¬
schloß, seine Operationsrichtung auf die Mitte der strategischen Front des
Feindes ungefähr dahin zu richten, wo die englische und preußische Aufstel¬
lung zusammenstießen. Wenn es ihm gelang, hier mit relativer Uebermacht
wie ein Keil einzudringen und die feindlichen Heere auseinander zu halten,
so durfte er hoffen, die preußische Armee in Richtung auf den Rhein, die
Engländer nach Antwerpen zum Rückzüge zu zwingen. Jedem einzelnen
der beiden Heere war Napoleon numerisch überlegen, dagegen den vereinig¬
ten Armeen auch schon in Belgien nicht gewachsen.

Die wahrscheinlichste Straße für den Anmarsch des Kaisers war die von
Maubeuge auf Nivelles und Brüssel; er aber beschloß, sich schon südlich der
Sambre mehr rechts gegen den linken preußischen Flügel zu wenden, wahr-
scheinlich um sich zugleich den von Rocroy und Metz kommenden Truppen
zu nähern.

Am 14. Juni meldete General Pirch die Bereinigung des französischen
Heeres in der Gegend von Beaumont, also vor der Front des I. Armee-
Corps (Zieten); ähnliche Nachrichten liefen von mehreren Seiten ein, und es
ist merkwürdig, daß Gneisenau es dennoch für zulässig hielt, mit der Con-
centration der Armee noch zu zögern. Das unzerstörbare Gefühl der Sicher¬
heit Wellingtons scheint von Brüssel hinübergewirkt zu haben nach Namur.
Erst in der Nacht zum 15., als ganz unwidersprechliche Zeugnisse einliefen
von der Absicht Napoleons, folgenden Tags anzugreifen, erließ Gneisenau
Persönlich, ohne Blücher wecken zu lassen, die Aufforderung an die Comman¬
deurs, ihre Corps zu concentriren. und zwar das II. bei Onoz und Mazy
das III. bei Namur, das IV. bei Hannut. So wurde die Armee noch in der
letzten Stunde — um Mitternacht — zum Angriff vorbereitet und ein
eigentlicher strategischer Ueberfall verhindert.

Die Disposition Napoleons für den 13. Juni trägt den Charakter großer
Vorsicht. Die ganze Armee war südlich der Sambre auf einen einzigen
Punkt, Charleroi, dirigirt, wahrscheinlich weil der Kaiser nördlich der Sam¬
bre feindliche Streitkräfte voraussetzte, zu deren Überwältigung die getrenn¬
ten Teten mehrerer, Colonnen nicht ausreichen würden, vielleicht auch, um die
Engländer in ihrer Kantonnirungen nicht aufzustören. — Für den General
Zieten, auf dessen Armee-Corps (I). der Anmarsch des Kaisers stieß, war
dieser Umstand günstig, weil nur eine preußische Brigade südlich der Sainbie
stand und dein überlegenen Mcissenan griffe des Feindes zu entziehen war.


Grenzboten II. 1875». 57
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/453>, abgerufen am 06.02.2025.