Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Dieser Angriff verzögerte sich überdies durch die Beschwerlichkeit der Wege
und den Umstand, daß in Folge eines Zwischenfalls Vandamme den Marsch¬
befehl nicht erhielt. Erst zwischen 12 und 1 Uhr mittags erreichte Napoleon
Charleroi, den Hauptübergangspunkt über die Sambre, und erkannte, daß er
zunächst knegsmäfzig die Lage des Feindes nördlich der Sambre, durch Necog-
noszirungen zu erforschen habe und zwar gegen die Engländer auf der Straße
nach Brüssel, gegen die Preußen auf der nach Namur.

Er theilte seine Armee in zwei Flügel, über deren einen, den linken,
Marschall Ney, über deren rechten Marschall Grouchy den Oberbefehl erhielt,
während der Kaiser selbst sich die Garde als Reserve vorbehielt. Vor jenen
Flügelarmeen zog sich nun das I. preußische Corps, in die Gegend von Fleurus
zurück, wobei Ney bei Frasnes (^2 Meile südl. Quatre Bras) gegen den
Prinzen Bernhard von Weimar, Grouchy bei Gilly gegen Pirch in's Gefecht
kam. Die Concentration des I. Corps gelang, allerdings mit einem Verluste
von 1200 Mann.

Inzwischen war man zu Namur in voller Thätigkeit, um die Vereini¬
gung der preußischen Armee bei Sombreffe sicher zu stellen, woselbst die
Schlacht anzunehmen Blücher entschlossen war.

Man rechnete darauf, am 16. Morgens das II. und III. Corps bei
Sombreffe zu vereinigen; man erwartete, daß bis zum Nachmittage auch das
IV. eintreffen werde. In letzterer Hinsicht aber ergab sich schon während der
Nacht, daß man sich geirrt. General v. Bülow hatte das Schreiben Gnci-
senaus, welches dieser allerdings auf eigene Hand ohne Blücher zu wecken und
in den höflichen Formen geschrieben hatte, die ein jüngerer General gegen den
älteren anwendet, nicht für verbindlich gehalten, sondern aus eigenen Gründen
vorgezogen, den gewünschten Marsch nach Hannut noch nicht anzutreten. Dies
verschlimmerte die Lage sehr.

Napoleon war mit den Erfolgen seines ersten Operationstages an sich
zufrieden, aber durchaus nicht sicher, ob er bei fortgesetzter Recognos-
zirung in Richtung auf Sombreffe die Preußen noch treffen werde, weil er
meinte, daß sie nach dem NHeine zu ausweichen würden. Traf er sie
am 16. nicht, so wollte er an demselben Tage noch mit seinen Garden nach
Brüssel abmarschieren, um die englische Armee von der preußischen zu isoliren.
Er war also nicht, wie in früheren Feldzügen entschlossen, durch die rücksichts¬
lose Verfolgung Eines Kriegsobjects die Umstände zu beherrschen, sondern er
wollte "nach den Umständen handeln" -- eine Abschwächung seines strate¬
gischen Charakters, welche sehr bezeichnend ist. -- Jedenfalls erwartete der
Kaiser für den 16. Juni keine Schlacht; der Gedanke, daß Blücher die preu¬
ßische Armee so nahe vor seiner Front zu sammeln "wagen" würde, ist
ihm gar nicht gekommen; er glaubte, daß beide Armeen, auch die englische,


Dieser Angriff verzögerte sich überdies durch die Beschwerlichkeit der Wege
und den Umstand, daß in Folge eines Zwischenfalls Vandamme den Marsch¬
befehl nicht erhielt. Erst zwischen 12 und 1 Uhr mittags erreichte Napoleon
Charleroi, den Hauptübergangspunkt über die Sambre, und erkannte, daß er
zunächst knegsmäfzig die Lage des Feindes nördlich der Sambre, durch Necog-
noszirungen zu erforschen habe und zwar gegen die Engländer auf der Straße
nach Brüssel, gegen die Preußen auf der nach Namur.

Er theilte seine Armee in zwei Flügel, über deren einen, den linken,
Marschall Ney, über deren rechten Marschall Grouchy den Oberbefehl erhielt,
während der Kaiser selbst sich die Garde als Reserve vorbehielt. Vor jenen
Flügelarmeen zog sich nun das I. preußische Corps, in die Gegend von Fleurus
zurück, wobei Ney bei Frasnes (^2 Meile südl. Quatre Bras) gegen den
Prinzen Bernhard von Weimar, Grouchy bei Gilly gegen Pirch in's Gefecht
kam. Die Concentration des I. Corps gelang, allerdings mit einem Verluste
von 1200 Mann.

Inzwischen war man zu Namur in voller Thätigkeit, um die Vereini¬
gung der preußischen Armee bei Sombreffe sicher zu stellen, woselbst die
Schlacht anzunehmen Blücher entschlossen war.

Man rechnete darauf, am 16. Morgens das II. und III. Corps bei
Sombreffe zu vereinigen; man erwartete, daß bis zum Nachmittage auch das
IV. eintreffen werde. In letzterer Hinsicht aber ergab sich schon während der
Nacht, daß man sich geirrt. General v. Bülow hatte das Schreiben Gnci-
senaus, welches dieser allerdings auf eigene Hand ohne Blücher zu wecken und
in den höflichen Formen geschrieben hatte, die ein jüngerer General gegen den
älteren anwendet, nicht für verbindlich gehalten, sondern aus eigenen Gründen
vorgezogen, den gewünschten Marsch nach Hannut noch nicht anzutreten. Dies
verschlimmerte die Lage sehr.

Napoleon war mit den Erfolgen seines ersten Operationstages an sich
zufrieden, aber durchaus nicht sicher, ob er bei fortgesetzter Recognos-
zirung in Richtung auf Sombreffe die Preußen noch treffen werde, weil er
meinte, daß sie nach dem NHeine zu ausweichen würden. Traf er sie
am 16. nicht, so wollte er an demselben Tage noch mit seinen Garden nach
Brüssel abmarschieren, um die englische Armee von der preußischen zu isoliren.
Er war also nicht, wie in früheren Feldzügen entschlossen, durch die rücksichts¬
lose Verfolgung Eines Kriegsobjects die Umstände zu beherrschen, sondern er
wollte „nach den Umständen handeln" — eine Abschwächung seines strate¬
gischen Charakters, welche sehr bezeichnend ist. — Jedenfalls erwartete der
Kaiser für den 16. Juni keine Schlacht; der Gedanke, daß Blücher die preu¬
ßische Armee so nahe vor seiner Front zu sammeln „wagen" würde, ist
ihm gar nicht gekommen; er glaubte, daß beide Armeen, auch die englische,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0454" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133742"/>
          <p xml:id="ID_1468" prev="#ID_1467"> Dieser Angriff verzögerte sich überdies durch die Beschwerlichkeit der Wege<lb/>
und den Umstand, daß in Folge eines Zwischenfalls Vandamme den Marsch¬<lb/>
befehl nicht erhielt. Erst zwischen 12 und 1 Uhr mittags erreichte Napoleon<lb/>
Charleroi, den Hauptübergangspunkt über die Sambre, und erkannte, daß er<lb/>
zunächst knegsmäfzig die Lage des Feindes nördlich der Sambre, durch Necog-<lb/>
noszirungen zu erforschen habe und zwar gegen die Engländer auf der Straße<lb/>
nach Brüssel, gegen die Preußen auf der nach Namur.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1469"> Er theilte seine Armee in zwei Flügel, über deren einen, den linken,<lb/>
Marschall Ney, über deren rechten Marschall Grouchy den Oberbefehl erhielt,<lb/>
während der Kaiser selbst sich die Garde als Reserve vorbehielt. Vor jenen<lb/>
Flügelarmeen zog sich nun das I. preußische Corps, in die Gegend von Fleurus<lb/>
zurück, wobei Ney bei Frasnes (^2 Meile südl. Quatre Bras) gegen den<lb/>
Prinzen Bernhard von Weimar, Grouchy bei Gilly gegen Pirch in's Gefecht<lb/>
kam. Die Concentration des I. Corps gelang, allerdings mit einem Verluste<lb/>
von 1200 Mann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1470"> Inzwischen war man zu Namur in voller Thätigkeit, um die Vereini¬<lb/>
gung der preußischen Armee bei Sombreffe sicher zu stellen, woselbst die<lb/>
Schlacht anzunehmen Blücher entschlossen war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1471"> Man rechnete darauf, am 16. Morgens das II. und III. Corps bei<lb/>
Sombreffe zu vereinigen; man erwartete, daß bis zum Nachmittage auch das<lb/>
IV. eintreffen werde. In letzterer Hinsicht aber ergab sich schon während der<lb/>
Nacht, daß man sich geirrt. General v. Bülow hatte das Schreiben Gnci-<lb/>
senaus, welches dieser allerdings auf eigene Hand ohne Blücher zu wecken und<lb/>
in den höflichen Formen geschrieben hatte, die ein jüngerer General gegen den<lb/>
älteren anwendet, nicht für verbindlich gehalten, sondern aus eigenen Gründen<lb/>
vorgezogen, den gewünschten Marsch nach Hannut noch nicht anzutreten. Dies<lb/>
verschlimmerte die Lage sehr.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1472" next="#ID_1473"> Napoleon war mit den Erfolgen seines ersten Operationstages an sich<lb/>
zufrieden, aber durchaus nicht sicher, ob er bei fortgesetzter Recognos-<lb/>
zirung in Richtung auf Sombreffe die Preußen noch treffen werde, weil er<lb/>
meinte, daß sie nach dem NHeine zu ausweichen würden. Traf er sie<lb/>
am 16. nicht, so wollte er an demselben Tage noch mit seinen Garden nach<lb/>
Brüssel abmarschieren, um die englische Armee von der preußischen zu isoliren.<lb/>
Er war also nicht, wie in früheren Feldzügen entschlossen, durch die rücksichts¬<lb/>
lose Verfolgung Eines Kriegsobjects die Umstände zu beherrschen, sondern er<lb/>
wollte &#x201E;nach den Umständen handeln" &#x2014; eine Abschwächung seines strate¬<lb/>
gischen Charakters, welche sehr bezeichnend ist. &#x2014; Jedenfalls erwartete der<lb/>
Kaiser für den 16. Juni keine Schlacht; der Gedanke, daß Blücher die preu¬<lb/>
ßische Armee so nahe vor seiner Front zu sammeln &#x201E;wagen" würde, ist<lb/>
ihm gar nicht gekommen; er glaubte, daß beide Armeen, auch die englische,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0454] Dieser Angriff verzögerte sich überdies durch die Beschwerlichkeit der Wege und den Umstand, daß in Folge eines Zwischenfalls Vandamme den Marsch¬ befehl nicht erhielt. Erst zwischen 12 und 1 Uhr mittags erreichte Napoleon Charleroi, den Hauptübergangspunkt über die Sambre, und erkannte, daß er zunächst knegsmäfzig die Lage des Feindes nördlich der Sambre, durch Necog- noszirungen zu erforschen habe und zwar gegen die Engländer auf der Straße nach Brüssel, gegen die Preußen auf der nach Namur. Er theilte seine Armee in zwei Flügel, über deren einen, den linken, Marschall Ney, über deren rechten Marschall Grouchy den Oberbefehl erhielt, während der Kaiser selbst sich die Garde als Reserve vorbehielt. Vor jenen Flügelarmeen zog sich nun das I. preußische Corps, in die Gegend von Fleurus zurück, wobei Ney bei Frasnes (^2 Meile südl. Quatre Bras) gegen den Prinzen Bernhard von Weimar, Grouchy bei Gilly gegen Pirch in's Gefecht kam. Die Concentration des I. Corps gelang, allerdings mit einem Verluste von 1200 Mann. Inzwischen war man zu Namur in voller Thätigkeit, um die Vereini¬ gung der preußischen Armee bei Sombreffe sicher zu stellen, woselbst die Schlacht anzunehmen Blücher entschlossen war. Man rechnete darauf, am 16. Morgens das II. und III. Corps bei Sombreffe zu vereinigen; man erwartete, daß bis zum Nachmittage auch das IV. eintreffen werde. In letzterer Hinsicht aber ergab sich schon während der Nacht, daß man sich geirrt. General v. Bülow hatte das Schreiben Gnci- senaus, welches dieser allerdings auf eigene Hand ohne Blücher zu wecken und in den höflichen Formen geschrieben hatte, die ein jüngerer General gegen den älteren anwendet, nicht für verbindlich gehalten, sondern aus eigenen Gründen vorgezogen, den gewünschten Marsch nach Hannut noch nicht anzutreten. Dies verschlimmerte die Lage sehr. Napoleon war mit den Erfolgen seines ersten Operationstages an sich zufrieden, aber durchaus nicht sicher, ob er bei fortgesetzter Recognos- zirung in Richtung auf Sombreffe die Preußen noch treffen werde, weil er meinte, daß sie nach dem NHeine zu ausweichen würden. Traf er sie am 16. nicht, so wollte er an demselben Tage noch mit seinen Garden nach Brüssel abmarschieren, um die englische Armee von der preußischen zu isoliren. Er war also nicht, wie in früheren Feldzügen entschlossen, durch die rücksichts¬ lose Verfolgung Eines Kriegsobjects die Umstände zu beherrschen, sondern er wollte „nach den Umständen handeln" — eine Abschwächung seines strate¬ gischen Charakters, welche sehr bezeichnend ist. — Jedenfalls erwartete der Kaiser für den 16. Juni keine Schlacht; der Gedanke, daß Blücher die preu¬ ßische Armee so nahe vor seiner Front zu sammeln „wagen" würde, ist ihm gar nicht gekommen; er glaubte, daß beide Armeen, auch die englische,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/454
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/454>, abgerufen am 06.02.2025.