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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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getroffen war) in die Pauluskirche, um Göbel predigen zu hören. Man bot
mir einen Sitz im Kirchenrathsstuhl unmittelbar vor der Kanzel an, ich aber
zog einen bescheidenem Platz nicht weit von der Thür vor. Ein Viertel vor
zehn Uhr wurde geläutet, die Kirche füllte sich nach und nach, die Orgel
ging, und der Geistliche erschien -- ein vollwangiges, rothes Alltagsgesicht
auf etwa vierzigjährigen Schultern. Er trug einen schwarzen Frack; denn der
Chorrock unsrer Seelenhirten ist hier, wie in den meisten protestantischen
Kirchen des Westens nicht erforderlich und daher selten. Nachdem man ein
Lied gesungen, las der Pastor ein Gebet aus Witschel vor, und dann gab
es eine Predigt, die, wie ich meinem verschwiegnen Tagebuche wohl anver¬
trauen darf, schwächlicher und confuser als billig war. An den Schluß
knüpfte er einen erregten Protest gegen die (freilich nicht von ungewöhnlichem
Zartgefühl eingegebne) Zumuthung des Kirchenrathes, nach der er dessen Be¬
schluß, daß nächsten Sonntag Probepredigt sein solle, von der Kanzel zu
verlesen hatte, und nun entstand Skandal. Rothert erhob sich und erklärte
noch erregter, das müsse er thun, wo nicht, so stiege er sofort selbst auf die
Kanzel und besorgte die Ankündigung. Darauf erneute Weigerung des
Pfarrers, Einwürfe und Drohungen von Seiten des gesammten Kirchenrathes,
ärgerlicher Zank, wüstes Durcheinanderschreien, Aufstampfen mit den Füßen,
wie zum Zuschlagen erhobne Hände -- ein Auftritt, dem der zornübermannte
Rothert die Krone aufsetzt, indem er dem ehrwürdigen Herrn mit lauter
Stimme einen Lügner ins Gesicht wirft. Die Frauen schüttelten die Köpfe.
Von den Männern erwartete ich jeden Augenblick, daß sie die Röcke aus¬
ziehen und einander in die Haare fahren würden, und da ich der Ansicht bin,
daß derartige Kraftübungen besser in Schenken oder auf Tanzböden als in
Kirchen vorgenommen werden, so zupfte ich Vetter Theodor am Rock¬
schoß, gab ihm einen Wink mit den Augen und machte mich mit ihm in der
Stille von dannen.

Der Nachmittag bot ein freundlicheres Bild. Die verschiedenen Wohl¬
thätigkeitsvereine Cincinnatis zogen in großer Prozession nach dem Mount
Auburn zur Einweihung des dort von ihnen erbauten Waisenhauses, neben
das später ein Wittwenhaus zu stehen kommen soll. Vorreiter mit Schärpen
führten den Zug, die Mitglieder der Vereine, ebenfalls beschärpt, und die
Schulkinder im besten Putz folgten, letztere von den Pastoren und Lehrern
geführt. Fahnen wehten, Musikchöre bliesen und trommelten. Eine dicke
gelbgraue Staubwolke wirbelte über dem Ganzen. Oben auf der Hochfläche
angekommen, machte ich binnen fünf Minuten die Bekanntschaft von zwei
Dutzend andern Mitgliedern der Paulusgemeinde, mußte allen die Hände
schütteln, wurde von allen gefragt, wie mir's geht, und hörte die Klagen über
den bösen Pastor, reit vielen "vvvil" und "ok^^ und "n,nz^ovo" gewürzt,


getroffen war) in die Pauluskirche, um Göbel predigen zu hören. Man bot
mir einen Sitz im Kirchenrathsstuhl unmittelbar vor der Kanzel an, ich aber
zog einen bescheidenem Platz nicht weit von der Thür vor. Ein Viertel vor
zehn Uhr wurde geläutet, die Kirche füllte sich nach und nach, die Orgel
ging, und der Geistliche erschien — ein vollwangiges, rothes Alltagsgesicht
auf etwa vierzigjährigen Schultern. Er trug einen schwarzen Frack; denn der
Chorrock unsrer Seelenhirten ist hier, wie in den meisten protestantischen
Kirchen des Westens nicht erforderlich und daher selten. Nachdem man ein
Lied gesungen, las der Pastor ein Gebet aus Witschel vor, und dann gab
es eine Predigt, die, wie ich meinem verschwiegnen Tagebuche wohl anver¬
trauen darf, schwächlicher und confuser als billig war. An den Schluß
knüpfte er einen erregten Protest gegen die (freilich nicht von ungewöhnlichem
Zartgefühl eingegebne) Zumuthung des Kirchenrathes, nach der er dessen Be¬
schluß, daß nächsten Sonntag Probepredigt sein solle, von der Kanzel zu
verlesen hatte, und nun entstand Skandal. Rothert erhob sich und erklärte
noch erregter, das müsse er thun, wo nicht, so stiege er sofort selbst auf die
Kanzel und besorgte die Ankündigung. Darauf erneute Weigerung des
Pfarrers, Einwürfe und Drohungen von Seiten des gesammten Kirchenrathes,
ärgerlicher Zank, wüstes Durcheinanderschreien, Aufstampfen mit den Füßen,
wie zum Zuschlagen erhobne Hände — ein Auftritt, dem der zornübermannte
Rothert die Krone aufsetzt, indem er dem ehrwürdigen Herrn mit lauter
Stimme einen Lügner ins Gesicht wirft. Die Frauen schüttelten die Köpfe.
Von den Männern erwartete ich jeden Augenblick, daß sie die Röcke aus¬
ziehen und einander in die Haare fahren würden, und da ich der Ansicht bin,
daß derartige Kraftübungen besser in Schenken oder auf Tanzböden als in
Kirchen vorgenommen werden, so zupfte ich Vetter Theodor am Rock¬
schoß, gab ihm einen Wink mit den Augen und machte mich mit ihm in der
Stille von dannen.

Der Nachmittag bot ein freundlicheres Bild. Die verschiedenen Wohl¬
thätigkeitsvereine Cincinnatis zogen in großer Prozession nach dem Mount
Auburn zur Einweihung des dort von ihnen erbauten Waisenhauses, neben
das später ein Wittwenhaus zu stehen kommen soll. Vorreiter mit Schärpen
führten den Zug, die Mitglieder der Vereine, ebenfalls beschärpt, und die
Schulkinder im besten Putz folgten, letztere von den Pastoren und Lehrern
geführt. Fahnen wehten, Musikchöre bliesen und trommelten. Eine dicke
gelbgraue Staubwolke wirbelte über dem Ganzen. Oben auf der Hochfläche
angekommen, machte ich binnen fünf Minuten die Bekanntschaft von zwei
Dutzend andern Mitgliedern der Paulusgemeinde, mußte allen die Hände
schütteln, wurde von allen gefragt, wie mir's geht, und hörte die Klagen über
den bösen Pastor, reit vielen „vvvil" und „ok^^ und „n,nz^ovo" gewürzt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/27>, abgerufen am 06.02.2025.