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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Sätze derselben hier zu wiederholen: "Nicht hoch genug", heißt es dort (S. 21),
"kann der Gewinn angeschlagen werden, daß unsere Lehranstalten in ihrem
innersten Wesen die Tendenz auf die volle Befreiung des männlichen Geistes
haben. In der vorausgehenden Schule beherrscht die Autorität nothwendig
den ganzen Menschen; im spätern Leben nimmt die Praxis, und mit derselben
wieder die Autorität, ansehnliche Strecken des Daseins in Beschlag. Aber
wenigstens Einen Augenblick soll auf deutschem Boden jeder gebildete Mann
in seinem Leben haben, wo die Organe der Autorität, wo Nation, Staat
und Lehrer selbst, als die höchste aller Anordnungen ihm das Gebot ver¬
künden, geistig frei zu sein. Aus dem Grunde der eigenen Seele heraus mit
der Leuchte selbständigen Wissens sich den Lebensweg selbst zu bahnen, das
ist das Ziel, welches das deutsche Universitätssystem seinen Schülern aufsteckt.
Möge der einzelne in Folge dieser Studien und Arbeiten die eine oder die
andere Richtung einschlagen, möge er liberal oder conservativ, Reaktionär
oder Progressist, orthodox oder ketzerisch werden: das für uns Wesentliche ist
nur, gleichviel was er sei, daß er es nicht aus Jugendgewohnheit, unklarer
Stimmung, überlieferten Gehorsam, sondern daß er es für sein ferneres
Leben aus wissenschaftlicher Erwägung, kritischer Prüfung, selbständiger
Entschließung sei. Dann und nur dann wird er zu den tüchtigen Gliedern
seines Berufs, den kräftigen Vertretern seiner Partei, den wirksamen Organen
seiner Confession, den Zierden und Ehren seiner Nation, dann, und nur
dann wird er in der Wahrheit zu der alle Stände durchbrechenden Aristo
kratie unserer Zeit, zu den Männern wirklicher Bildung zählen."

Wenn wir nun mit v. Sybel übereinstimmen, daß dies das Ziel sei,
welches unsere Universitäten, wir dürfen wohl schwerlich sagen erreichen,
aber doch ein Ziel für sie aufs Innigste zu wünschen, so möchte es fast schei¬
nen, als ob wir von den englischen Universitäten, wo alles der Autorität
unterworfen ist, wo die Studien jedes Einzelnen nach derselben Norm ver¬
laufen, nur sehr wenig für unsere Zwecke lernen könnten. Und dennoch giebt
die Betrachtung derselben abgesehen von manchen schätzenswerten äußeren
Einrichtungen, wozu namentlich auch die Fürsorge für das körperliche Wohl¬
befinden und Gedeihen der Studenten zu rechnen ist, uns in einer Hin ficht
ein großes nachahmenswertes Beispiel. Freilich finden wir dies nicht so
sehr in dem, was die beiden Universitäten für das englische Volk leisten,
sondern vielmehr darin, was das Volk für die Universitäten thut; und in
dieser Hinsicht fällt ein Vergleich mit unseren Verhältnissen schwerlich zu
unseren Gunsten aus.

Die englischen Universitäten sind, wie aus den wenigen Andeutungen,
die in dieser Hinsicht gegeben wurden, schon zur Genüge erhellt, aus der
Nation selber hervorgegangen, und die Nation hat sie zu allen Zeiten gehegt


Sätze derselben hier zu wiederholen: „Nicht hoch genug", heißt es dort (S. 21),
„kann der Gewinn angeschlagen werden, daß unsere Lehranstalten in ihrem
innersten Wesen die Tendenz auf die volle Befreiung des männlichen Geistes
haben. In der vorausgehenden Schule beherrscht die Autorität nothwendig
den ganzen Menschen; im spätern Leben nimmt die Praxis, und mit derselben
wieder die Autorität, ansehnliche Strecken des Daseins in Beschlag. Aber
wenigstens Einen Augenblick soll auf deutschem Boden jeder gebildete Mann
in seinem Leben haben, wo die Organe der Autorität, wo Nation, Staat
und Lehrer selbst, als die höchste aller Anordnungen ihm das Gebot ver¬
künden, geistig frei zu sein. Aus dem Grunde der eigenen Seele heraus mit
der Leuchte selbständigen Wissens sich den Lebensweg selbst zu bahnen, das
ist das Ziel, welches das deutsche Universitätssystem seinen Schülern aufsteckt.
Möge der einzelne in Folge dieser Studien und Arbeiten die eine oder die
andere Richtung einschlagen, möge er liberal oder conservativ, Reaktionär
oder Progressist, orthodox oder ketzerisch werden: das für uns Wesentliche ist
nur, gleichviel was er sei, daß er es nicht aus Jugendgewohnheit, unklarer
Stimmung, überlieferten Gehorsam, sondern daß er es für sein ferneres
Leben aus wissenschaftlicher Erwägung, kritischer Prüfung, selbständiger
Entschließung sei. Dann und nur dann wird er zu den tüchtigen Gliedern
seines Berufs, den kräftigen Vertretern seiner Partei, den wirksamen Organen
seiner Confession, den Zierden und Ehren seiner Nation, dann, und nur
dann wird er in der Wahrheit zu der alle Stände durchbrechenden Aristo
kratie unserer Zeit, zu den Männern wirklicher Bildung zählen."

Wenn wir nun mit v. Sybel übereinstimmen, daß dies das Ziel sei,
welches unsere Universitäten, wir dürfen wohl schwerlich sagen erreichen,
aber doch ein Ziel für sie aufs Innigste zu wünschen, so möchte es fast schei¬
nen, als ob wir von den englischen Universitäten, wo alles der Autorität
unterworfen ist, wo die Studien jedes Einzelnen nach derselben Norm ver¬
laufen, nur sehr wenig für unsere Zwecke lernen könnten. Und dennoch giebt
die Betrachtung derselben abgesehen von manchen schätzenswerten äußeren
Einrichtungen, wozu namentlich auch die Fürsorge für das körperliche Wohl¬
befinden und Gedeihen der Studenten zu rechnen ist, uns in einer Hin ficht
ein großes nachahmenswertes Beispiel. Freilich finden wir dies nicht so
sehr in dem, was die beiden Universitäten für das englische Volk leisten,
sondern vielmehr darin, was das Volk für die Universitäten thut; und in
dieser Hinsicht fällt ein Vergleich mit unseren Verhältnissen schwerlich zu
unseren Gunsten aus.

Die englischen Universitäten sind, wie aus den wenigen Andeutungen,
die in dieser Hinsicht gegeben wurden, schon zur Genüge erhellt, aus der
Nation selber hervorgegangen, und die Nation hat sie zu allen Zeiten gehegt


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[0144] Sätze derselben hier zu wiederholen: „Nicht hoch genug", heißt es dort (S. 21), „kann der Gewinn angeschlagen werden, daß unsere Lehranstalten in ihrem innersten Wesen die Tendenz auf die volle Befreiung des männlichen Geistes haben. In der vorausgehenden Schule beherrscht die Autorität nothwendig den ganzen Menschen; im spätern Leben nimmt die Praxis, und mit derselben wieder die Autorität, ansehnliche Strecken des Daseins in Beschlag. Aber wenigstens Einen Augenblick soll auf deutschem Boden jeder gebildete Mann in seinem Leben haben, wo die Organe der Autorität, wo Nation, Staat und Lehrer selbst, als die höchste aller Anordnungen ihm das Gebot ver¬ künden, geistig frei zu sein. Aus dem Grunde der eigenen Seele heraus mit der Leuchte selbständigen Wissens sich den Lebensweg selbst zu bahnen, das ist das Ziel, welches das deutsche Universitätssystem seinen Schülern aufsteckt. Möge der einzelne in Folge dieser Studien und Arbeiten die eine oder die andere Richtung einschlagen, möge er liberal oder conservativ, Reaktionär oder Progressist, orthodox oder ketzerisch werden: das für uns Wesentliche ist nur, gleichviel was er sei, daß er es nicht aus Jugendgewohnheit, unklarer Stimmung, überlieferten Gehorsam, sondern daß er es für sein ferneres Leben aus wissenschaftlicher Erwägung, kritischer Prüfung, selbständiger Entschließung sei. Dann und nur dann wird er zu den tüchtigen Gliedern seines Berufs, den kräftigen Vertretern seiner Partei, den wirksamen Organen seiner Confession, den Zierden und Ehren seiner Nation, dann, und nur dann wird er in der Wahrheit zu der alle Stände durchbrechenden Aristo kratie unserer Zeit, zu den Männern wirklicher Bildung zählen." Wenn wir nun mit v. Sybel übereinstimmen, daß dies das Ziel sei, welches unsere Universitäten, wir dürfen wohl schwerlich sagen erreichen, aber doch ein Ziel für sie aufs Innigste zu wünschen, so möchte es fast schei¬ nen, als ob wir von den englischen Universitäten, wo alles der Autorität unterworfen ist, wo die Studien jedes Einzelnen nach derselben Norm ver¬ laufen, nur sehr wenig für unsere Zwecke lernen könnten. Und dennoch giebt die Betrachtung derselben abgesehen von manchen schätzenswerten äußeren Einrichtungen, wozu namentlich auch die Fürsorge für das körperliche Wohl¬ befinden und Gedeihen der Studenten zu rechnen ist, uns in einer Hin ficht ein großes nachahmenswertes Beispiel. Freilich finden wir dies nicht so sehr in dem, was die beiden Universitäten für das englische Volk leisten, sondern vielmehr darin, was das Volk für die Universitäten thut; und in dieser Hinsicht fällt ein Vergleich mit unseren Verhältnissen schwerlich zu unseren Gunsten aus. Die englischen Universitäten sind, wie aus den wenigen Andeutungen, die in dieser Hinsicht gegeben wurden, schon zur Genüge erhellt, aus der Nation selber hervorgegangen, und die Nation hat sie zu allen Zeiten gehegt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/144>, abgerufen am 06.02.2025.