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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Sache. Der Abgeordnete fügte dann noch hinzu, es komme darauf an, die
Dogmatik aus der klerikalen Organisation zu befreien.

Er wollte damit sagen, daß jeder Glaubenslehre über die höchsten Dinge
freie Bewegung zu gestatten sei, daß aber niemals das Privilegium einer be¬
stimmten Corporation auf den Alleinbesitz der Glaubenswahrheit zum unver¬
brüchlichen Glaubensartikel gemacht und vom Staat geschützt werden dürfe.
Wer hierin nicht soweit wie der Abgeordnete Virchow geht, weil er jene pri-
vilegirte Corporation als eine historische Schöpfung hinnimmt und selbst re-
spectirt, der wird doch daran festhalten müssen, daß jene Corporation ihr histori¬
sches Privilegium durch fortgesetzten maßlosen Mißbrauch endlich verwirken muß.

Dieselbe Sitzung vom 6. April brachte aus dem Munde des Abgeordne¬
ten Windthorst die seltsame Aeußerung zum Borschein, daß das Centrum nicht
an den Sturz des Fürsten Bismarck denke, weil dieser Staatsmann der ein¬
zige sei, der den Frieden zwischen Rom und Deutschland wieder herstellen
könne, sobald er die Nothwendigkeit davon eingesehen. War dies nur ein
Spaß des spaßhaften Redners ohne tieferen Sinn, oder war es der unwill¬
kürliche Ausbruch der Zufriedenheit über eine politische Combination, von
welcher der Ultramontanismus die Nöthigung zur Umkehr für den deutschen
Staat erwartet?

Am 8. April begann die zweite Berathung des Entwurfs der Provinzial-
ordnung. Gleich der erste Paragraph gab den Anlaß zu einer sehr erregten
Verhandlung, worin, freilich auf verborgene Weise, auch die Kernfrage des
Gesetzes einen herrschenden Gesichtspunkt bildete. Die Commission hatte näm¬
lich bei Aufzählung der 5 Provinzen, für welche das Gesetz zunächst eingeführt
werden soll, einen Zusatz beantragt, welcher die Theilung der Provinz Preußen
aussprach. Um diesen Zusatz wurde nun gekämpft, wie einst zwischen den
Troern und Achäern vor Ilion. Für den außenstehenden Beobachter ist es
in der That ein Bedürfniß, über die Motive dieses Kampfes diejenige Auf¬
klärung zu erhalten, die sich aus der Verhandlung auf keine Weise schöpfen
läßt. Was soll der ferne Beobachter sagen, wenn er das Resultat der Ab¬
stimmung überblickt und daraus ersieht, daß der Commissivnsvorschlag mit
207 gegen 120 Stimmen abgelehnt worden und daß die Majorität sich zu¬
sammensetzte aus den vier anwesenden Ministern, aus der Fortschrittspartei
mit Ausnahme von dreien ihrer Mitglieder, worunter Herr Eugen Richter,
aus dem Centrum, aus den Polen und einer geringen Zahl Mitglieder der
verschiedenen conservativen Fractionen ; wogegen die Minorität aus der Mehr¬
zahl der Nationalliberalen und Freiconservativen bestand. Ein Doppelpaar
von Motiven hat diesen Kampf und diese Abstimmung beherrscht. Das zweite
Motivenpaar ist rein provinzieller Art, das erste ist allgemein staatlicher Na¬
tur. Für den Commissionsvorschlag, also für die Theilung der Provinz


Sache. Der Abgeordnete fügte dann noch hinzu, es komme darauf an, die
Dogmatik aus der klerikalen Organisation zu befreien.

Er wollte damit sagen, daß jeder Glaubenslehre über die höchsten Dinge
freie Bewegung zu gestatten sei, daß aber niemals das Privilegium einer be¬
stimmten Corporation auf den Alleinbesitz der Glaubenswahrheit zum unver¬
brüchlichen Glaubensartikel gemacht und vom Staat geschützt werden dürfe.
Wer hierin nicht soweit wie der Abgeordnete Virchow geht, weil er jene pri-
vilegirte Corporation als eine historische Schöpfung hinnimmt und selbst re-
spectirt, der wird doch daran festhalten müssen, daß jene Corporation ihr histori¬
sches Privilegium durch fortgesetzten maßlosen Mißbrauch endlich verwirken muß.

Dieselbe Sitzung vom 6. April brachte aus dem Munde des Abgeordne¬
ten Windthorst die seltsame Aeußerung zum Borschein, daß das Centrum nicht
an den Sturz des Fürsten Bismarck denke, weil dieser Staatsmann der ein¬
zige sei, der den Frieden zwischen Rom und Deutschland wieder herstellen
könne, sobald er die Nothwendigkeit davon eingesehen. War dies nur ein
Spaß des spaßhaften Redners ohne tieferen Sinn, oder war es der unwill¬
kürliche Ausbruch der Zufriedenheit über eine politische Combination, von
welcher der Ultramontanismus die Nöthigung zur Umkehr für den deutschen
Staat erwartet?

Am 8. April begann die zweite Berathung des Entwurfs der Provinzial-
ordnung. Gleich der erste Paragraph gab den Anlaß zu einer sehr erregten
Verhandlung, worin, freilich auf verborgene Weise, auch die Kernfrage des
Gesetzes einen herrschenden Gesichtspunkt bildete. Die Commission hatte näm¬
lich bei Aufzählung der 5 Provinzen, für welche das Gesetz zunächst eingeführt
werden soll, einen Zusatz beantragt, welcher die Theilung der Provinz Preußen
aussprach. Um diesen Zusatz wurde nun gekämpft, wie einst zwischen den
Troern und Achäern vor Ilion. Für den außenstehenden Beobachter ist es
in der That ein Bedürfniß, über die Motive dieses Kampfes diejenige Auf¬
klärung zu erhalten, die sich aus der Verhandlung auf keine Weise schöpfen
läßt. Was soll der ferne Beobachter sagen, wenn er das Resultat der Ab¬
stimmung überblickt und daraus ersieht, daß der Commissivnsvorschlag mit
207 gegen 120 Stimmen abgelehnt worden und daß die Majorität sich zu¬
sammensetzte aus den vier anwesenden Ministern, aus der Fortschrittspartei
mit Ausnahme von dreien ihrer Mitglieder, worunter Herr Eugen Richter,
aus dem Centrum, aus den Polen und einer geringen Zahl Mitglieder der
verschiedenen conservativen Fractionen ; wogegen die Minorität aus der Mehr¬
zahl der Nationalliberalen und Freiconservativen bestand. Ein Doppelpaar
von Motiven hat diesen Kampf und diese Abstimmung beherrscht. Das zweite
Motivenpaar ist rein provinzieller Art, das erste ist allgemein staatlicher Na¬
tur. Für den Commissionsvorschlag, also für die Theilung der Provinz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/123>, abgerufen am 06.02.2025.