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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Herrschaftsforderung von Seiten des Papstes. Auf diese äußeren Angelegen¬
heiten der Kirche bezogen sich vornehmlich in Frankreich und England und
Deutschland die Rufe nach einer Reformation der Kirche.

Ich brstreite nicht, daß auch hierbei an einzelnen Stellen wirklich religiöse
Motive mitwirkten. Mit vollem Rechte pflegt die geschichtliche Betrachtung
auf eine Reihe kirchlicher Stimmen hinzuweisen, die im 14. und 18. Jahr¬
hundert eine Verinnerlichung des kirchlichen Lebens, eine größere Heiligung
des inneren Menschen empfohlen und als nothwendig bezeichnet haben: alle
jene Männer, die man mit einem allerdings zu Mißverständnissen irreleitenden
Nimm die "Reformatoren vor der Reformation" gewöhnlich betitelt, waren
bemüht, ein jeder in seiner Weise die erstorbene Religion wieder zu beleben
und die erstarrenden Formen der Kirchlichkeit mit religiösem Gefühle wieder
zu beseelen. Aus der scholastischen Dogmatik strebten viele einzelnen Geister
zu der reineren Augustinischen Heilslehre zurück. Aber weder diese Ansätze zu
erneuerter Religiosität noch die Anläufe zur Reform der äußerlichen Stellung
und Verfassung der Kirche waren geeignet, eine wirkliche Neubelebung der
Kirche als eines Ganzen zu schaffen.

Nun bot sich aber vielleicht doch noch eine andere Möglichkeit. War es
von vornherein als, undenkbar zu bezeichnen, daß die damals grade frisch auf¬
strebende Wissenschaft die geforderte Reformation hervorbringe?

Allerdings die neuen Tendenzen des Humanismus hatten in Italien
nichts derartiges gezeitigt. Mit äußerer Anbequemung an die Formen der
Kirche war man von dem Geiste der Kirche ganz abgekommen. Nicht allein
Skepsis, sondern auch Hohn und Spott über die Kirche, in welcher man an¬
gesehene Aemter bekleidete, war ein charakteristisches Merkmal der italienischen
Humanisten geworden. Dort sah es anfangs so aus, als ob nicht nur die
überlieferte christliche Kirche des Mittelalters sondern auch mit derselben jedes
religiöse Gefühl überhaupt vernichtet und erstickt werden sollte. Aber wenn
dahin der Humanismus in Italien geführt, nicht dies war seine Wirkung
in Deutschland. In Deutschland vermählte das wissenschaftliche Streben sich
auch mit religiösem Sinne; in Deutschland gab es eine Richtung, welche gerade
im Bunde mit der neuen Wissenschaft die Kirchenreformation herbeiführen
wollte. Und einen Namen darf ich nicht unterlassen in diesem Zusammen¬
hang mit besonderem Nachdruck zu nennen, der zu denjenigen Erscheinungen
der Geschichte gehört, welche aus naheliegenden Parteiinteresse mißgünstig be¬
trachtet werden und bis heute noch nicht eine volle und Vorurtheilslose Wür¬
digung erfahren haben: ich meine den Erasmus.



"> Was hier über die reformatorischen Absichten des Erasmus gesagt wird,
bedarf bei dem gegenwärtigen Stande der Forschung und Literatur näherer Ausführung; eine
olche behalte ich mir auf eine andere Gelegenheit vor. Wie ich schon ftüher bemerkt habe, ist

Herrschaftsforderung von Seiten des Papstes. Auf diese äußeren Angelegen¬
heiten der Kirche bezogen sich vornehmlich in Frankreich und England und
Deutschland die Rufe nach einer Reformation der Kirche.

Ich brstreite nicht, daß auch hierbei an einzelnen Stellen wirklich religiöse
Motive mitwirkten. Mit vollem Rechte pflegt die geschichtliche Betrachtung
auf eine Reihe kirchlicher Stimmen hinzuweisen, die im 14. und 18. Jahr¬
hundert eine Verinnerlichung des kirchlichen Lebens, eine größere Heiligung
des inneren Menschen empfohlen und als nothwendig bezeichnet haben: alle
jene Männer, die man mit einem allerdings zu Mißverständnissen irreleitenden
Nimm die „Reformatoren vor der Reformation" gewöhnlich betitelt, waren
bemüht, ein jeder in seiner Weise die erstorbene Religion wieder zu beleben
und die erstarrenden Formen der Kirchlichkeit mit religiösem Gefühle wieder
zu beseelen. Aus der scholastischen Dogmatik strebten viele einzelnen Geister
zu der reineren Augustinischen Heilslehre zurück. Aber weder diese Ansätze zu
erneuerter Religiosität noch die Anläufe zur Reform der äußerlichen Stellung
und Verfassung der Kirche waren geeignet, eine wirkliche Neubelebung der
Kirche als eines Ganzen zu schaffen.

Nun bot sich aber vielleicht doch noch eine andere Möglichkeit. War es
von vornherein als, undenkbar zu bezeichnen, daß die damals grade frisch auf¬
strebende Wissenschaft die geforderte Reformation hervorbringe?

Allerdings die neuen Tendenzen des Humanismus hatten in Italien
nichts derartiges gezeitigt. Mit äußerer Anbequemung an die Formen der
Kirche war man von dem Geiste der Kirche ganz abgekommen. Nicht allein
Skepsis, sondern auch Hohn und Spott über die Kirche, in welcher man an¬
gesehene Aemter bekleidete, war ein charakteristisches Merkmal der italienischen
Humanisten geworden. Dort sah es anfangs so aus, als ob nicht nur die
überlieferte christliche Kirche des Mittelalters sondern auch mit derselben jedes
religiöse Gefühl überhaupt vernichtet und erstickt werden sollte. Aber wenn
dahin der Humanismus in Italien geführt, nicht dies war seine Wirkung
in Deutschland. In Deutschland vermählte das wissenschaftliche Streben sich
auch mit religiösem Sinne; in Deutschland gab es eine Richtung, welche gerade
im Bunde mit der neuen Wissenschaft die Kirchenreformation herbeiführen
wollte. Und einen Namen darf ich nicht unterlassen in diesem Zusammen¬
hang mit besonderem Nachdruck zu nennen, der zu denjenigen Erscheinungen
der Geschichte gehört, welche aus naheliegenden Parteiinteresse mißgünstig be¬
trachtet werden und bis heute noch nicht eine volle und Vorurtheilslose Wür¬
digung erfahren haben: ich meine den Erasmus.



"> Was hier über die reformatorischen Absichten des Erasmus gesagt wird,
bedarf bei dem gegenwärtigen Stande der Forschung und Literatur näherer Ausführung; eine
olche behalte ich mir auf eine andere Gelegenheit vor. Wie ich schon ftüher bemerkt habe, ist
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[0338] Herrschaftsforderung von Seiten des Papstes. Auf diese äußeren Angelegen¬ heiten der Kirche bezogen sich vornehmlich in Frankreich und England und Deutschland die Rufe nach einer Reformation der Kirche. Ich brstreite nicht, daß auch hierbei an einzelnen Stellen wirklich religiöse Motive mitwirkten. Mit vollem Rechte pflegt die geschichtliche Betrachtung auf eine Reihe kirchlicher Stimmen hinzuweisen, die im 14. und 18. Jahr¬ hundert eine Verinnerlichung des kirchlichen Lebens, eine größere Heiligung des inneren Menschen empfohlen und als nothwendig bezeichnet haben: alle jene Männer, die man mit einem allerdings zu Mißverständnissen irreleitenden Nimm die „Reformatoren vor der Reformation" gewöhnlich betitelt, waren bemüht, ein jeder in seiner Weise die erstorbene Religion wieder zu beleben und die erstarrenden Formen der Kirchlichkeit mit religiösem Gefühle wieder zu beseelen. Aus der scholastischen Dogmatik strebten viele einzelnen Geister zu der reineren Augustinischen Heilslehre zurück. Aber weder diese Ansätze zu erneuerter Religiosität noch die Anläufe zur Reform der äußerlichen Stellung und Verfassung der Kirche waren geeignet, eine wirkliche Neubelebung der Kirche als eines Ganzen zu schaffen. Nun bot sich aber vielleicht doch noch eine andere Möglichkeit. War es von vornherein als, undenkbar zu bezeichnen, daß die damals grade frisch auf¬ strebende Wissenschaft die geforderte Reformation hervorbringe? Allerdings die neuen Tendenzen des Humanismus hatten in Italien nichts derartiges gezeitigt. Mit äußerer Anbequemung an die Formen der Kirche war man von dem Geiste der Kirche ganz abgekommen. Nicht allein Skepsis, sondern auch Hohn und Spott über die Kirche, in welcher man an¬ gesehene Aemter bekleidete, war ein charakteristisches Merkmal der italienischen Humanisten geworden. Dort sah es anfangs so aus, als ob nicht nur die überlieferte christliche Kirche des Mittelalters sondern auch mit derselben jedes religiöse Gefühl überhaupt vernichtet und erstickt werden sollte. Aber wenn dahin der Humanismus in Italien geführt, nicht dies war seine Wirkung in Deutschland. In Deutschland vermählte das wissenschaftliche Streben sich auch mit religiösem Sinne; in Deutschland gab es eine Richtung, welche gerade im Bunde mit der neuen Wissenschaft die Kirchenreformation herbeiführen wollte. Und einen Namen darf ich nicht unterlassen in diesem Zusammen¬ hang mit besonderem Nachdruck zu nennen, der zu denjenigen Erscheinungen der Geschichte gehört, welche aus naheliegenden Parteiinteresse mißgünstig be¬ trachtet werden und bis heute noch nicht eine volle und Vorurtheilslose Wür¬ digung erfahren haben: ich meine den Erasmus. "> Was hier über die reformatorischen Absichten des Erasmus gesagt wird, bedarf bei dem gegenwärtigen Stande der Forschung und Literatur näherer Ausführung; eine olche behalte ich mir auf eine andere Gelegenheit vor. Wie ich schon ftüher bemerkt habe, ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/338>, abgerufen am 23.07.2024.