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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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An der hohen wissenschaftlichen Bedeutung des Erasmus zweifelt Nie¬
mand; aber an seinen reformatorischen Gedanken Pflegt man schweigend vor¬
beizugehen. Erasmus war in der That ein König der Geister, ein Fürst der
Literatur. Aus den Quellen der Antike hatte er seinen Geist getränkt, im
Alterthume sich seine Nahrung geholt; aber auch die ältesten und reinsten
Quellen des Christenthums waren ihm erschlossen und vertraut: Philosophie
und Geschichte und Sprachwissenschaft waren seine eigensten Gebiete, und in
formvollendeter Rede verstand er seine geistigen Schätze zu spenden; er war ein
Meister der ernsten und der scherzhaften Darstellung, wie alle Geister über¬
legener Bildung zu ironischer Feinheit besonders gerne geneigt. Er hatte die
Gebrechen seiner Zeit vollauf erkundet; in der Wissenschaft hatte er das wahre
Heilmittel zu entdecken geglaubt: indem er den ganzen Strom der wissenschaft¬
lichen Bildung und Cultur seiner Zeit in die Kirche hineinzuleiten suchte,
meinte er die Reformation zu Wege zu bringen. Ohne jeden gewaltsamen
Akt, in allmäliger Arbeit gedachte er diesen Plan zu verfolgen; und zwar
ebensowohl in Eintracht mit dem humanistisch angehauchten Papstthum als
in gemeinsamer Anlehnung an die Staatsgewalten seiner Zeit; so pflog er
Verbindungen und Beziehungen zu England und zu Spanien, die diesen Ge¬
danken dienten. Und als nun der Herrscher von Spanien an die Spitze der
Habsburgischen Monarchie trat, als die Hegemonie Europas dem jugendlichen
König und Kaiser Karl V. zu Theil wurde, da schien in der That dem Für¬
sten der Wissenschaft die Möglichkeit zu einer Kirchenreformation durch die
Großmacht europäischer Bildung und Cultur nahegerückt zu sein!

Die Stürme, die gerade damals Luther entfesselte, gestatteten derEras-
mischen Reformation nicht sich zu entwickeln. Und wäre ihr dieser
Spielraum gewährt worden, sie hätte doch an dem inneren Widerspruch ihrer
Gedanken zu Grunde gehen müssen.

Sein und Leben der mittelalterlichen Kirche beruhte auf der äußeren
Autorität kirchlicher Tradition; es war ein fester in sich zusammenhängender
Bau von Ueberlieferungen, dessen Garantie vornehmlich in den Sätzen und
Aussagen der kirchlichen Ueberlieferung selbst bestand. Das aber war eine
Grundlage, dessen wissenschaftliche Ergründung und Erforschung wohl kaum
möglich war; was Wissenschaft und Kunst an diesem Gebäude mittelalterlichen
Kirchenthums leisten konnten, das war nichts als äußerliche Zuthat, äußer¬
licher Schmuck und Zierrath: -- das Wesen des Kirchengebäudes war von
der Wissenschaft nicht zu berühren. Die Autorität, auf der die mittelalter-


diese Lücke in der neueren Literatur über Erasmus eine sehr empfindliche trotz der Bücher, die
in letzter Zeit über ihn geschrieben sind. (Aus dem so eben in meine Hand gelangten 1. Hefte
der Historischen Zeitschrift pro 1875 ersehe ich, daß Geiger dasselbe Bedauern über diese Lücke
in unserer Literatur ausgesprochen hat; vgl. S. 72.)

An der hohen wissenschaftlichen Bedeutung des Erasmus zweifelt Nie¬
mand; aber an seinen reformatorischen Gedanken Pflegt man schweigend vor¬
beizugehen. Erasmus war in der That ein König der Geister, ein Fürst der
Literatur. Aus den Quellen der Antike hatte er seinen Geist getränkt, im
Alterthume sich seine Nahrung geholt; aber auch die ältesten und reinsten
Quellen des Christenthums waren ihm erschlossen und vertraut: Philosophie
und Geschichte und Sprachwissenschaft waren seine eigensten Gebiete, und in
formvollendeter Rede verstand er seine geistigen Schätze zu spenden; er war ein
Meister der ernsten und der scherzhaften Darstellung, wie alle Geister über¬
legener Bildung zu ironischer Feinheit besonders gerne geneigt. Er hatte die
Gebrechen seiner Zeit vollauf erkundet; in der Wissenschaft hatte er das wahre
Heilmittel zu entdecken geglaubt: indem er den ganzen Strom der wissenschaft¬
lichen Bildung und Cultur seiner Zeit in die Kirche hineinzuleiten suchte,
meinte er die Reformation zu Wege zu bringen. Ohne jeden gewaltsamen
Akt, in allmäliger Arbeit gedachte er diesen Plan zu verfolgen; und zwar
ebensowohl in Eintracht mit dem humanistisch angehauchten Papstthum als
in gemeinsamer Anlehnung an die Staatsgewalten seiner Zeit; so pflog er
Verbindungen und Beziehungen zu England und zu Spanien, die diesen Ge¬
danken dienten. Und als nun der Herrscher von Spanien an die Spitze der
Habsburgischen Monarchie trat, als die Hegemonie Europas dem jugendlichen
König und Kaiser Karl V. zu Theil wurde, da schien in der That dem Für¬
sten der Wissenschaft die Möglichkeit zu einer Kirchenreformation durch die
Großmacht europäischer Bildung und Cultur nahegerückt zu sein!

Die Stürme, die gerade damals Luther entfesselte, gestatteten derEras-
mischen Reformation nicht sich zu entwickeln. Und wäre ihr dieser
Spielraum gewährt worden, sie hätte doch an dem inneren Widerspruch ihrer
Gedanken zu Grunde gehen müssen.

Sein und Leben der mittelalterlichen Kirche beruhte auf der äußeren
Autorität kirchlicher Tradition; es war ein fester in sich zusammenhängender
Bau von Ueberlieferungen, dessen Garantie vornehmlich in den Sätzen und
Aussagen der kirchlichen Ueberlieferung selbst bestand. Das aber war eine
Grundlage, dessen wissenschaftliche Ergründung und Erforschung wohl kaum
möglich war; was Wissenschaft und Kunst an diesem Gebäude mittelalterlichen
Kirchenthums leisten konnten, das war nichts als äußerliche Zuthat, äußer¬
licher Schmuck und Zierrath: — das Wesen des Kirchengebäudes war von
der Wissenschaft nicht zu berühren. Die Autorität, auf der die mittelalter-


diese Lücke in der neueren Literatur über Erasmus eine sehr empfindliche trotz der Bücher, die
in letzter Zeit über ihn geschrieben sind. (Aus dem so eben in meine Hand gelangten 1. Hefte
der Historischen Zeitschrift pro 1875 ersehe ich, daß Geiger dasselbe Bedauern über diese Lücke
in unserer Literatur ausgesprochen hat; vgl. S. 72.)
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[0339] An der hohen wissenschaftlichen Bedeutung des Erasmus zweifelt Nie¬ mand; aber an seinen reformatorischen Gedanken Pflegt man schweigend vor¬ beizugehen. Erasmus war in der That ein König der Geister, ein Fürst der Literatur. Aus den Quellen der Antike hatte er seinen Geist getränkt, im Alterthume sich seine Nahrung geholt; aber auch die ältesten und reinsten Quellen des Christenthums waren ihm erschlossen und vertraut: Philosophie und Geschichte und Sprachwissenschaft waren seine eigensten Gebiete, und in formvollendeter Rede verstand er seine geistigen Schätze zu spenden; er war ein Meister der ernsten und der scherzhaften Darstellung, wie alle Geister über¬ legener Bildung zu ironischer Feinheit besonders gerne geneigt. Er hatte die Gebrechen seiner Zeit vollauf erkundet; in der Wissenschaft hatte er das wahre Heilmittel zu entdecken geglaubt: indem er den ganzen Strom der wissenschaft¬ lichen Bildung und Cultur seiner Zeit in die Kirche hineinzuleiten suchte, meinte er die Reformation zu Wege zu bringen. Ohne jeden gewaltsamen Akt, in allmäliger Arbeit gedachte er diesen Plan zu verfolgen; und zwar ebensowohl in Eintracht mit dem humanistisch angehauchten Papstthum als in gemeinsamer Anlehnung an die Staatsgewalten seiner Zeit; so pflog er Verbindungen und Beziehungen zu England und zu Spanien, die diesen Ge¬ danken dienten. Und als nun der Herrscher von Spanien an die Spitze der Habsburgischen Monarchie trat, als die Hegemonie Europas dem jugendlichen König und Kaiser Karl V. zu Theil wurde, da schien in der That dem Für¬ sten der Wissenschaft die Möglichkeit zu einer Kirchenreformation durch die Großmacht europäischer Bildung und Cultur nahegerückt zu sein! Die Stürme, die gerade damals Luther entfesselte, gestatteten derEras- mischen Reformation nicht sich zu entwickeln. Und wäre ihr dieser Spielraum gewährt worden, sie hätte doch an dem inneren Widerspruch ihrer Gedanken zu Grunde gehen müssen. Sein und Leben der mittelalterlichen Kirche beruhte auf der äußeren Autorität kirchlicher Tradition; es war ein fester in sich zusammenhängender Bau von Ueberlieferungen, dessen Garantie vornehmlich in den Sätzen und Aussagen der kirchlichen Ueberlieferung selbst bestand. Das aber war eine Grundlage, dessen wissenschaftliche Ergründung und Erforschung wohl kaum möglich war; was Wissenschaft und Kunst an diesem Gebäude mittelalterlichen Kirchenthums leisten konnten, das war nichts als äußerliche Zuthat, äußer¬ licher Schmuck und Zierrath: — das Wesen des Kirchengebäudes war von der Wissenschaft nicht zu berühren. Die Autorität, auf der die mittelalter- diese Lücke in der neueren Literatur über Erasmus eine sehr empfindliche trotz der Bücher, die in letzter Zeit über ihn geschrieben sind. (Aus dem so eben in meine Hand gelangten 1. Hefte der Historischen Zeitschrift pro 1875 ersehe ich, daß Geiger dasselbe Bedauern über diese Lücke in unserer Literatur ausgesprochen hat; vgl. S. 72.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/339>, abgerufen am 23.07.2024.