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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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politischen Individualitäten" einführte. Der treffliche Abgeordnete vergaß,
daß auch ein mißwachsenes Glied am lebendigen Leibe unter der Hand des
Chirurgen erbebt. So ist es in einem lebendigen Volke mit künstlichen Staats¬
und Provinzial-Schöpfungen mißlungenster Art. Man darf aber daraus
nicht schließen, daß der Mißwachs lebensfähig ist, weil zur Zeit ein verküm¬
mertes Leben in ihm pulsirt. Wenn man ihn fortwuchern läßt, wird er viel¬
mehr den ganzen Organismus aufs Tiefste schädigen. Herr Mrchow wies,
denn auch gegen Miquel mit Glück nach, daß an den historisch - politischen
Individualitäten nichts sei. Aber höchst unglücklicherweise gelangte er zu dem
Nachsatz, daß man, wenn nicht auf Grundlage der Historie, so doch auf irgend
einer rationellen Grundlage in Deutschland möglichst viel politische Indivi¬
dualitäten schaffen müsse, auf daß Deutschland ein wahrer Bundesstaat werde
und die unbequeme preußische Monarchie verschwinde. Genau dahin wollte
auch Miquel. Nur suchte er historisch zu motiviren, was Mrchow bloß doc-
trinell zu motiviren fand. Braver Doctrinär, müssen wir dennoch sagen, der
keine Bundesgenossenschaft annimmt, die nicht auf dem richtigen Grunde be¬
ruht! Im übrigen bewahre uns der Himmel vor den Wünschen der beiden
Herren sammt ihren Motiven! Sie würden beide uns dazu helfen, das deutsche
Reich seines Kernes zu berauben und es in Schleim zu verwandeln, den die
Fluth in alle vier Winde zerstreut.

Man sieht, was in dieser Liebhaberei für die großen Provinzen steckt:
nicht die Ueberzeugung von ihrer verwaltungstechnischen Zweckmäßigkeit, son¬
dern allerlei Zukunftsgedanken für die Gestaltung des deutschen Reiches, bald
dilettantischer, bald tendenziöser Natur. Ein Abgeordneter, der von solchen
Zukunftsgedanken wohl am meisten entfernt ist, nämlich Gneist, wollte doch
auch die jetzigen Provinzen beibehalten, um nicht auf einmal zu radical zu
Verfahren. Hauptsächlich wendete er sich jedoch dagegen, die ganze Arbeit der
Regierungsbezirke den jetzigen Provinzialbehörden aufzupacken. Den aus dem
Zweck der Reform wahrhaft hervorgehenden Gedanken einer Vermehrung der
Provinzen berührte auch er nur ganz ungenügend.

Der zweite Punkt, den wir aus dem ersten Theil der Discussion hervor¬
zuheben haben, betraf die Ausdehnung der Verwaltungsreform, nicht etwa
im Laufe der Zeiten, sondern womöglich noch im Laufe dieser Session auf
Rheinland und Westfalen. Der erwähnte, darauf bezügliche Antrag des
Abgeordneten Virchow fand mit ganz überwiegender Majorität Annahme.
Aber nicht erst bei der Discussion dieses Antrages, sondern schon in der Er¬
örterung der Provinzialordnung wurde die Frage verhandelt. Man muß sich
erinnern, daß die Kreisordnung von 1872 bis jetzt nur in fünf der alten
Provinzen des preußischen Staates gilt. Ausgenommen von der Geltung
dieser Reform wurde die Provinz Posen wegen ihrer nationalen Verhältnisse.


politischen Individualitäten" einführte. Der treffliche Abgeordnete vergaß,
daß auch ein mißwachsenes Glied am lebendigen Leibe unter der Hand des
Chirurgen erbebt. So ist es in einem lebendigen Volke mit künstlichen Staats¬
und Provinzial-Schöpfungen mißlungenster Art. Man darf aber daraus
nicht schließen, daß der Mißwachs lebensfähig ist, weil zur Zeit ein verküm¬
mertes Leben in ihm pulsirt. Wenn man ihn fortwuchern läßt, wird er viel¬
mehr den ganzen Organismus aufs Tiefste schädigen. Herr Mrchow wies,
denn auch gegen Miquel mit Glück nach, daß an den historisch - politischen
Individualitäten nichts sei. Aber höchst unglücklicherweise gelangte er zu dem
Nachsatz, daß man, wenn nicht auf Grundlage der Historie, so doch auf irgend
einer rationellen Grundlage in Deutschland möglichst viel politische Indivi¬
dualitäten schaffen müsse, auf daß Deutschland ein wahrer Bundesstaat werde
und die unbequeme preußische Monarchie verschwinde. Genau dahin wollte
auch Miquel. Nur suchte er historisch zu motiviren, was Mrchow bloß doc-
trinell zu motiviren fand. Braver Doctrinär, müssen wir dennoch sagen, der
keine Bundesgenossenschaft annimmt, die nicht auf dem richtigen Grunde be¬
ruht! Im übrigen bewahre uns der Himmel vor den Wünschen der beiden
Herren sammt ihren Motiven! Sie würden beide uns dazu helfen, das deutsche
Reich seines Kernes zu berauben und es in Schleim zu verwandeln, den die
Fluth in alle vier Winde zerstreut.

Man sieht, was in dieser Liebhaberei für die großen Provinzen steckt:
nicht die Ueberzeugung von ihrer verwaltungstechnischen Zweckmäßigkeit, son¬
dern allerlei Zukunftsgedanken für die Gestaltung des deutschen Reiches, bald
dilettantischer, bald tendenziöser Natur. Ein Abgeordneter, der von solchen
Zukunftsgedanken wohl am meisten entfernt ist, nämlich Gneist, wollte doch
auch die jetzigen Provinzen beibehalten, um nicht auf einmal zu radical zu
Verfahren. Hauptsächlich wendete er sich jedoch dagegen, die ganze Arbeit der
Regierungsbezirke den jetzigen Provinzialbehörden aufzupacken. Den aus dem
Zweck der Reform wahrhaft hervorgehenden Gedanken einer Vermehrung der
Provinzen berührte auch er nur ganz ungenügend.

Der zweite Punkt, den wir aus dem ersten Theil der Discussion hervor¬
zuheben haben, betraf die Ausdehnung der Verwaltungsreform, nicht etwa
im Laufe der Zeiten, sondern womöglich noch im Laufe dieser Session auf
Rheinland und Westfalen. Der erwähnte, darauf bezügliche Antrag des
Abgeordneten Virchow fand mit ganz überwiegender Majorität Annahme.
Aber nicht erst bei der Discussion dieses Antrages, sondern schon in der Er¬
örterung der Provinzialordnung wurde die Frage verhandelt. Man muß sich
erinnern, daß die Kreisordnung von 1872 bis jetzt nur in fünf der alten
Provinzen des preußischen Staates gilt. Ausgenommen von der Geltung
dieser Reform wurde die Provinz Posen wegen ihrer nationalen Verhältnisse.


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[0323] politischen Individualitäten" einführte. Der treffliche Abgeordnete vergaß, daß auch ein mißwachsenes Glied am lebendigen Leibe unter der Hand des Chirurgen erbebt. So ist es in einem lebendigen Volke mit künstlichen Staats¬ und Provinzial-Schöpfungen mißlungenster Art. Man darf aber daraus nicht schließen, daß der Mißwachs lebensfähig ist, weil zur Zeit ein verküm¬ mertes Leben in ihm pulsirt. Wenn man ihn fortwuchern läßt, wird er viel¬ mehr den ganzen Organismus aufs Tiefste schädigen. Herr Mrchow wies, denn auch gegen Miquel mit Glück nach, daß an den historisch - politischen Individualitäten nichts sei. Aber höchst unglücklicherweise gelangte er zu dem Nachsatz, daß man, wenn nicht auf Grundlage der Historie, so doch auf irgend einer rationellen Grundlage in Deutschland möglichst viel politische Indivi¬ dualitäten schaffen müsse, auf daß Deutschland ein wahrer Bundesstaat werde und die unbequeme preußische Monarchie verschwinde. Genau dahin wollte auch Miquel. Nur suchte er historisch zu motiviren, was Mrchow bloß doc- trinell zu motiviren fand. Braver Doctrinär, müssen wir dennoch sagen, der keine Bundesgenossenschaft annimmt, die nicht auf dem richtigen Grunde be¬ ruht! Im übrigen bewahre uns der Himmel vor den Wünschen der beiden Herren sammt ihren Motiven! Sie würden beide uns dazu helfen, das deutsche Reich seines Kernes zu berauben und es in Schleim zu verwandeln, den die Fluth in alle vier Winde zerstreut. Man sieht, was in dieser Liebhaberei für die großen Provinzen steckt: nicht die Ueberzeugung von ihrer verwaltungstechnischen Zweckmäßigkeit, son¬ dern allerlei Zukunftsgedanken für die Gestaltung des deutschen Reiches, bald dilettantischer, bald tendenziöser Natur. Ein Abgeordneter, der von solchen Zukunftsgedanken wohl am meisten entfernt ist, nämlich Gneist, wollte doch auch die jetzigen Provinzen beibehalten, um nicht auf einmal zu radical zu Verfahren. Hauptsächlich wendete er sich jedoch dagegen, die ganze Arbeit der Regierungsbezirke den jetzigen Provinzialbehörden aufzupacken. Den aus dem Zweck der Reform wahrhaft hervorgehenden Gedanken einer Vermehrung der Provinzen berührte auch er nur ganz ungenügend. Der zweite Punkt, den wir aus dem ersten Theil der Discussion hervor¬ zuheben haben, betraf die Ausdehnung der Verwaltungsreform, nicht etwa im Laufe der Zeiten, sondern womöglich noch im Laufe dieser Session auf Rheinland und Westfalen. Der erwähnte, darauf bezügliche Antrag des Abgeordneten Virchow fand mit ganz überwiegender Majorität Annahme. Aber nicht erst bei der Discussion dieses Antrages, sondern schon in der Er¬ örterung der Provinzialordnung wurde die Frage verhandelt. Man muß sich erinnern, daß die Kreisordnung von 1872 bis jetzt nur in fünf der alten Provinzen des preußischen Staates gilt. Ausgenommen von der Geltung dieser Reform wurde die Provinz Posen wegen ihrer nationalen Verhältnisse.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/323>, abgerufen am 29.06.2024.