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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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wurden die Provinzen Schleswig-Holstein, Hannover und Hessen-Nassau
wegen ihrer von den altpreußischen Verwaltungseinrichtungen, in welche die
neue Kreisordnung sich einfügen ließ, gänzlich abweichenden Verwaltungsfor¬
men und auch wegen der ungleichartigen socialen Verhältnisse. Ausgenommen
wurden endlich die Provinzen Rheinland und Westfalen, wo seit der franzö¬
sischen Herrschaft die Communalverhältnifse auf eine von den altländischen
ganz abweichende Basis gestellt waren, eine Basis, die von den verschiedenen
Gemeindeordnungen und Kreisordnungen der östlichen Provinzen niemals
berührt worden ist. Bei dem Erlaß der Kreisordnung von 1872 war man
indeß einig, daß die Reform nach und nach auf die ganze Monarchie ausge¬
dehnt werden müsse. Nur wollte man auf dem am meisten geeigneten Boden
der altländischen Provinzen zunächst versuchsweise vorgehen. Auch hätte die
sofortige Uebertragung auf die neuen Provinzen weit größere Vorarbeiten und
Umwälzungen erfordert, als in den alten Provinzen erforderlich gewesen. Bei
den gegenwärtigen Vorlagen nun handelte es sich darum, das mit der
Kreisordnung für die alten Provinzen begonnene Reformwerk vorerst für diese
abzuschließen. Die Majorität des Abgeordnetenhauses scheint indeß der Mei¬
nung zu sein, es sei besser, diesen Abschluß nicht vorzunehmen, wenn sich mit
demselben nicht die Ausdehung der ganzen Reform, wenn nicht auf die ganze
Monarchie, doch wenigstens auf Rheinland und Westfalen in einem und dem¬
selben Moment verbinden lasse. Wir sagen "scheint der Meinung zu sein",
trotz der anscheinend so unzweideutigen Abstimmung über den Antrag Virchow,
wobei das Haus mit 292 gegen 28 Stimmen die Aufforderung bejahte: die
Regierung möge die volle Reform noch in dieser Session durch entsprechende
Gesetzvorlagen auf Rheinland und Westfalen ausdehnen. Wir glauben indeß,
daß diese große Majorität nicht der Meinung ist, die übrigen Vorlagen ab¬
zulehnen, wenn die weiteren gewünschten Vorlagen nicht in dieser Session er¬
folgen. Wir glauben, daß die große Majorität für den Antrag Virchow
sich überhaupt nur gebildet hat im Gegensatz zu der mit großem Nachdruck
von bedeutender Seite "erfochtenen Ansicht, die Ausdehnung der Reform auf
die Rheinprovinz sei von großer Gefahr und deshalb auf unbestimmte Zeit
zu vertagen.

Der Minister des Innern, der den Aufschub der Reform für die andern
Provinzen vertheidigte, ging dabei vornehmlich nur von dem unwiderleglicher
Satz aus, daß die Riesenarbeit dieser Reform weder von der Negierung noch
von dem Landtag auf einmal bewältigt werden könne. Er sagte in seiner
witzigen Weise: Ich sehe nicht ein, warum sich die Herren nach einer zum
Ekel reich besetzten Tafel sehnen, von der sie im voraus wissen, daß sie sie
nicht aufessen werden. In der That können die Abgeordneten nicht einmal
wissen, ob es ihnen gelingt, die gegenwärtigen Vorlagen in dieser Session


wurden die Provinzen Schleswig-Holstein, Hannover und Hessen-Nassau
wegen ihrer von den altpreußischen Verwaltungseinrichtungen, in welche die
neue Kreisordnung sich einfügen ließ, gänzlich abweichenden Verwaltungsfor¬
men und auch wegen der ungleichartigen socialen Verhältnisse. Ausgenommen
wurden endlich die Provinzen Rheinland und Westfalen, wo seit der franzö¬
sischen Herrschaft die Communalverhältnifse auf eine von den altländischen
ganz abweichende Basis gestellt waren, eine Basis, die von den verschiedenen
Gemeindeordnungen und Kreisordnungen der östlichen Provinzen niemals
berührt worden ist. Bei dem Erlaß der Kreisordnung von 1872 war man
indeß einig, daß die Reform nach und nach auf die ganze Monarchie ausge¬
dehnt werden müsse. Nur wollte man auf dem am meisten geeigneten Boden
der altländischen Provinzen zunächst versuchsweise vorgehen. Auch hätte die
sofortige Uebertragung auf die neuen Provinzen weit größere Vorarbeiten und
Umwälzungen erfordert, als in den alten Provinzen erforderlich gewesen. Bei
den gegenwärtigen Vorlagen nun handelte es sich darum, das mit der
Kreisordnung für die alten Provinzen begonnene Reformwerk vorerst für diese
abzuschließen. Die Majorität des Abgeordnetenhauses scheint indeß der Mei¬
nung zu sein, es sei besser, diesen Abschluß nicht vorzunehmen, wenn sich mit
demselben nicht die Ausdehung der ganzen Reform, wenn nicht auf die ganze
Monarchie, doch wenigstens auf Rheinland und Westfalen in einem und dem¬
selben Moment verbinden lasse. Wir sagen „scheint der Meinung zu sein",
trotz der anscheinend so unzweideutigen Abstimmung über den Antrag Virchow,
wobei das Haus mit 292 gegen 28 Stimmen die Aufforderung bejahte: die
Regierung möge die volle Reform noch in dieser Session durch entsprechende
Gesetzvorlagen auf Rheinland und Westfalen ausdehnen. Wir glauben indeß,
daß diese große Majorität nicht der Meinung ist, die übrigen Vorlagen ab¬
zulehnen, wenn die weiteren gewünschten Vorlagen nicht in dieser Session er¬
folgen. Wir glauben, daß die große Majorität für den Antrag Virchow
sich überhaupt nur gebildet hat im Gegensatz zu der mit großem Nachdruck
von bedeutender Seite »erfochtenen Ansicht, die Ausdehnung der Reform auf
die Rheinprovinz sei von großer Gefahr und deshalb auf unbestimmte Zeit
zu vertagen.

Der Minister des Innern, der den Aufschub der Reform für die andern
Provinzen vertheidigte, ging dabei vornehmlich nur von dem unwiderleglicher
Satz aus, daß die Riesenarbeit dieser Reform weder von der Negierung noch
von dem Landtag auf einmal bewältigt werden könne. Er sagte in seiner
witzigen Weise: Ich sehe nicht ein, warum sich die Herren nach einer zum
Ekel reich besetzten Tafel sehnen, von der sie im voraus wissen, daß sie sie
nicht aufessen werden. In der That können die Abgeordneten nicht einmal
wissen, ob es ihnen gelingt, die gegenwärtigen Vorlagen in dieser Session


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[0324] wurden die Provinzen Schleswig-Holstein, Hannover und Hessen-Nassau wegen ihrer von den altpreußischen Verwaltungseinrichtungen, in welche die neue Kreisordnung sich einfügen ließ, gänzlich abweichenden Verwaltungsfor¬ men und auch wegen der ungleichartigen socialen Verhältnisse. Ausgenommen wurden endlich die Provinzen Rheinland und Westfalen, wo seit der franzö¬ sischen Herrschaft die Communalverhältnifse auf eine von den altländischen ganz abweichende Basis gestellt waren, eine Basis, die von den verschiedenen Gemeindeordnungen und Kreisordnungen der östlichen Provinzen niemals berührt worden ist. Bei dem Erlaß der Kreisordnung von 1872 war man indeß einig, daß die Reform nach und nach auf die ganze Monarchie ausge¬ dehnt werden müsse. Nur wollte man auf dem am meisten geeigneten Boden der altländischen Provinzen zunächst versuchsweise vorgehen. Auch hätte die sofortige Uebertragung auf die neuen Provinzen weit größere Vorarbeiten und Umwälzungen erfordert, als in den alten Provinzen erforderlich gewesen. Bei den gegenwärtigen Vorlagen nun handelte es sich darum, das mit der Kreisordnung für die alten Provinzen begonnene Reformwerk vorerst für diese abzuschließen. Die Majorität des Abgeordnetenhauses scheint indeß der Mei¬ nung zu sein, es sei besser, diesen Abschluß nicht vorzunehmen, wenn sich mit demselben nicht die Ausdehung der ganzen Reform, wenn nicht auf die ganze Monarchie, doch wenigstens auf Rheinland und Westfalen in einem und dem¬ selben Moment verbinden lasse. Wir sagen „scheint der Meinung zu sein", trotz der anscheinend so unzweideutigen Abstimmung über den Antrag Virchow, wobei das Haus mit 292 gegen 28 Stimmen die Aufforderung bejahte: die Regierung möge die volle Reform noch in dieser Session durch entsprechende Gesetzvorlagen auf Rheinland und Westfalen ausdehnen. Wir glauben indeß, daß diese große Majorität nicht der Meinung ist, die übrigen Vorlagen ab¬ zulehnen, wenn die weiteren gewünschten Vorlagen nicht in dieser Session er¬ folgen. Wir glauben, daß die große Majorität für den Antrag Virchow sich überhaupt nur gebildet hat im Gegensatz zu der mit großem Nachdruck von bedeutender Seite »erfochtenen Ansicht, die Ausdehnung der Reform auf die Rheinprovinz sei von großer Gefahr und deshalb auf unbestimmte Zeit zu vertagen. Der Minister des Innern, der den Aufschub der Reform für die andern Provinzen vertheidigte, ging dabei vornehmlich nur von dem unwiderleglicher Satz aus, daß die Riesenarbeit dieser Reform weder von der Negierung noch von dem Landtag auf einmal bewältigt werden könne. Er sagte in seiner witzigen Weise: Ich sehe nicht ein, warum sich die Herren nach einer zum Ekel reich besetzten Tafel sehnen, von der sie im voraus wissen, daß sie sie nicht aufessen werden. In der That können die Abgeordneten nicht einmal wissen, ob es ihnen gelingt, die gegenwärtigen Vorlagen in dieser Session

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/324>, abgerufen am 26.06.2024.