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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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mag es versagt scheinen, ihre Forschung zu kunstvoller Darstellung zu erheben;
im Ganzen hat die Geschichtsschreibung als Kunst in den letzten Jahrzehnten
fortschritte gemacht. Und mit jedem gelungenen Schritte vorwärts wächst
ihr Einfluß auf die Nation. Mehr und mehr verwirklicht sich die Forderung,
daß für Gesinnung und Charakter und Haltung auf geistigem und politischem
Gebiete die Nation von ihren Historikern sich Führung und Leitung erbittet.

Sie sehen, verehrter Freund, in wie günstigen Farben sich einem Histo¬
riker heute der Zustand unserer Studien im Ganzen darstellen kann. Das
wäre allerdings ein übereilter Schluß, gegen den Einwendungen zu erheben
ich nicht unterlassen würde, wenn Sie annehmen wollten, daß ich neben jenem
Richte nicht'auch Schatten gesehen hätte. Nein, gerade aus der skizzirten günsti¬
gen Wendung In unserer Geschichtschreibung haben sich einzelne Schwächen und
Fehler neuerdings herausgestellt. Erlauben Sie. daß ich auf Einzelnes hindeute.

Man kann gewiß das Bestreben unserer Historiker nur loben, wenn sie
die Früchte ihrer Studien in angemessener und geschmackvoller Form allen
denen zur Kenntniß bringen wollen, die ein Interesse an ihnen nehmen
könnten. Verzeihlich mag in manchen Fällen es sein, daß Einer ein Ergeb¬
niß, das er gefunden zu haben glaubt, zu voller Wirkung zu bringen sich
beeilt und sich anstrengt; nur darf dies Streben nach Anerkennung und Ver¬
breitung gewonnener Resultate nicht zu Effekthascherei verleiten!

Daß es in Frankreich und in England historische Schriftsteller giebt, die
mit ihren Geschichtsbüchern er Sensation movet erfolgreiche Concurrenz machen,
ist bekannt. Um von den Franzosen nicht weiter zu reden, die ganze Schrift-
stellerei von Dixon hat gar keinen weiteren Zweck, und Fronde wird nicht
für viel besser gehalten werden dürfen. Aber auch bei uns droht dies Uebel
einzureihen. Welchen Lärm und welches Aufsehen gedachte vor einigen Jahren
Aschbach mit seiner Behauptung zu machen, daß die Gedichte der Nonne
Roswitha eine humanistische Fälschung seien! Wie pikant verwerthete Ber¬
gen roth seinen kühnen Satz, die Mutter Karl's V. sei gesunden Geistes
gewesen und absichtlich von ihren Verwandten aus Herrschsucht als Geistes¬
kranke ausgegeben worden! Das waren drastische Versuche, durch angebliche
kritische Entdeckungen bei dem großen Publikum Eindruck zu machen. Und
welchen Effekt haben jene Schriftsteller wirklich erzielt!

Recht oft hängt diese Sensationsgeschichtsforschung zusammen mit einem
andern bedenklichen Symptome, mit Tendenzmach erei. Das ist eine sehr
gefährliche Klippe, an der so leicht der ganze wissenschaftliche Charakter unserer
Geschichtsschreibung scheitern könnte: nur allzuverbreitet ist leider gegenwärtig
die Neigung, zu bestimmten Zwecken Geschichte zu schreiben. Das Uebel ist
alt; oft ist darüber geklagt und dagegen gewarnt worden. Gerade die in den
letzten Jahren eingetretene Erregung der Geister über die Frage von Kirche


mag es versagt scheinen, ihre Forschung zu kunstvoller Darstellung zu erheben;
im Ganzen hat die Geschichtsschreibung als Kunst in den letzten Jahrzehnten
fortschritte gemacht. Und mit jedem gelungenen Schritte vorwärts wächst
ihr Einfluß auf die Nation. Mehr und mehr verwirklicht sich die Forderung,
daß für Gesinnung und Charakter und Haltung auf geistigem und politischem
Gebiete die Nation von ihren Historikern sich Führung und Leitung erbittet.

Sie sehen, verehrter Freund, in wie günstigen Farben sich einem Histo¬
riker heute der Zustand unserer Studien im Ganzen darstellen kann. Das
wäre allerdings ein übereilter Schluß, gegen den Einwendungen zu erheben
ich nicht unterlassen würde, wenn Sie annehmen wollten, daß ich neben jenem
Richte nicht'auch Schatten gesehen hätte. Nein, gerade aus der skizzirten günsti¬
gen Wendung In unserer Geschichtschreibung haben sich einzelne Schwächen und
Fehler neuerdings herausgestellt. Erlauben Sie. daß ich auf Einzelnes hindeute.

Man kann gewiß das Bestreben unserer Historiker nur loben, wenn sie
die Früchte ihrer Studien in angemessener und geschmackvoller Form allen
denen zur Kenntniß bringen wollen, die ein Interesse an ihnen nehmen
könnten. Verzeihlich mag in manchen Fällen es sein, daß Einer ein Ergeb¬
niß, das er gefunden zu haben glaubt, zu voller Wirkung zu bringen sich
beeilt und sich anstrengt; nur darf dies Streben nach Anerkennung und Ver¬
breitung gewonnener Resultate nicht zu Effekthascherei verleiten!

Daß es in Frankreich und in England historische Schriftsteller giebt, die
mit ihren Geschichtsbüchern er Sensation movet erfolgreiche Concurrenz machen,
ist bekannt. Um von den Franzosen nicht weiter zu reden, die ganze Schrift-
stellerei von Dixon hat gar keinen weiteren Zweck, und Fronde wird nicht
für viel besser gehalten werden dürfen. Aber auch bei uns droht dies Uebel
einzureihen. Welchen Lärm und welches Aufsehen gedachte vor einigen Jahren
Aschbach mit seiner Behauptung zu machen, daß die Gedichte der Nonne
Roswitha eine humanistische Fälschung seien! Wie pikant verwerthete Ber¬
gen roth seinen kühnen Satz, die Mutter Karl's V. sei gesunden Geistes
gewesen und absichtlich von ihren Verwandten aus Herrschsucht als Geistes¬
kranke ausgegeben worden! Das waren drastische Versuche, durch angebliche
kritische Entdeckungen bei dem großen Publikum Eindruck zu machen. Und
welchen Effekt haben jene Schriftsteller wirklich erzielt!

Recht oft hängt diese Sensationsgeschichtsforschung zusammen mit einem
andern bedenklichen Symptome, mit Tendenzmach erei. Das ist eine sehr
gefährliche Klippe, an der so leicht der ganze wissenschaftliche Charakter unserer
Geschichtsschreibung scheitern könnte: nur allzuverbreitet ist leider gegenwärtig
die Neigung, zu bestimmten Zwecken Geschichte zu schreiben. Das Uebel ist
alt; oft ist darüber geklagt und dagegen gewarnt worden. Gerade die in den
letzten Jahren eingetretene Erregung der Geister über die Frage von Kirche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/31>, abgerufen am 01.07.2024.