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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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gebildet hat. Ranke und seine Schule, seine eigenen Schüler und die Schüler
seiner-Schüler, denen sich auch die außerhalb dieser persönlichen Verknüpfung
stehenden Historiker in der principiellen W erthschätzung und praktischen Hand¬
habung der Kritik bald und vollständig verbunden haben: diese Genossenschaft
forschender und darstellender Gelehrten hat nun seit ungefähr fünfzig Jahren
das Gebäude unserer Wissenschaft fundamentirt und ausgebaut. Wenn man
mit Recht Ranke's erste bahnbrechende Arbeit als den Grundstein der neuen
Weise ansehen darf, der 1824 gelegt ist, so .wäre also jetzt die Zeit gekommen
in halbhundertjähriger Festfeier sich des Erreichten zu freuen und zur Weiter¬
führung des noch Erstrebten zu ermuntern.

Die erste Forderung, die man heute zu stellen berechtigt sich fühlt, ist die
einer strengen, gewissenhaften, kritischen Arbeit: nicht an abgeleitete Bearbeitungen,
sondern an die ersten und ältesten Quellen selbst der historischen Ueberlieferung
haben sich Forscher und Darsteller zu wenden. Für die Behandlung und
Kritik der Quellen innerhalb der forschenden Arbeit selbst giebt es heutzutage
feste Grundsätze und Regeln, die von der Praxis der Meister abstrahirt den
Jüngern zur Nachachtung überliefert zu werden pflegen: historische Kritik
läßt sich lehren und lernen; Schulung und Uebung in derselben nimmt im
Lehrplan unserer Universitäten überall eine feste Stelle ein. Gewissermaßen
für die Technik des geschichtlichen Studiums giebt es heute eine feste Tradition,
an der man überall festhält. Welchen Einfluß dieser Umstand auf die be¬
nachbarten Wissenschaften, auf Philologie und Jurisprudenz und Theologie
ausübt, lehrt allenthalben die neueste Entwickelung jener Wissenschaften.

Nächst der eigentlich kritischen Durcharbeitung der Quellen ist selbst dem
bloßen Forscher die Auffassung und Beurtheilung der von ihm gewonnenen
Thatsachen unerläßlich: die einzelnen Glieder hat er in eine Kette zu reihen
und nach ihrem Zusammenhange zu ordnen. Mit derartigen Studien sind
gegenwärtig in Deutschland Hunderte von älteren und jüngeren Forschern
beschäftigt: kunstvolle Darsteller dagegen giebt es nur wenige.

Auch wir halten heute daran fest, daß der höchste Preis nur demjenigen
gereicht wird, der ein Kunstwerk der Literatur zu schaffen versteht. Wir ver¬
langen von dem wahrhaften Historiker, daß er jene kritische Arbeit des Forschers
vollständig beherrscht und beweist, daß er zugleich aber die Resultate seiner
wissenschaftlichen Arbeit in einer Darstellung vorträgt, die jeden Leser über-
zeugt und belehrt und erfreuet.

Und wenn auch die großen Meisterwerke, wie sie Ranke und Sybel
undDroysen und Mommsen geliefert, nicht in allzugroßer Zahl vor¬
handen find und nicht alle Tage entstehen, so wird doch jeder unbefangene
Beobachter der historischen Literatur zugeben müssen, daß allenthalben das
Bestreben sich zeigt, jenen höheren Aufgaben gerecht zu werden. Einzelne"


gebildet hat. Ranke und seine Schule, seine eigenen Schüler und die Schüler
seiner-Schüler, denen sich auch die außerhalb dieser persönlichen Verknüpfung
stehenden Historiker in der principiellen W erthschätzung und praktischen Hand¬
habung der Kritik bald und vollständig verbunden haben: diese Genossenschaft
forschender und darstellender Gelehrten hat nun seit ungefähr fünfzig Jahren
das Gebäude unserer Wissenschaft fundamentirt und ausgebaut. Wenn man
mit Recht Ranke's erste bahnbrechende Arbeit als den Grundstein der neuen
Weise ansehen darf, der 1824 gelegt ist, so .wäre also jetzt die Zeit gekommen
in halbhundertjähriger Festfeier sich des Erreichten zu freuen und zur Weiter¬
führung des noch Erstrebten zu ermuntern.

Die erste Forderung, die man heute zu stellen berechtigt sich fühlt, ist die
einer strengen, gewissenhaften, kritischen Arbeit: nicht an abgeleitete Bearbeitungen,
sondern an die ersten und ältesten Quellen selbst der historischen Ueberlieferung
haben sich Forscher und Darsteller zu wenden. Für die Behandlung und
Kritik der Quellen innerhalb der forschenden Arbeit selbst giebt es heutzutage
feste Grundsätze und Regeln, die von der Praxis der Meister abstrahirt den
Jüngern zur Nachachtung überliefert zu werden pflegen: historische Kritik
läßt sich lehren und lernen; Schulung und Uebung in derselben nimmt im
Lehrplan unserer Universitäten überall eine feste Stelle ein. Gewissermaßen
für die Technik des geschichtlichen Studiums giebt es heute eine feste Tradition,
an der man überall festhält. Welchen Einfluß dieser Umstand auf die be¬
nachbarten Wissenschaften, auf Philologie und Jurisprudenz und Theologie
ausübt, lehrt allenthalben die neueste Entwickelung jener Wissenschaften.

Nächst der eigentlich kritischen Durcharbeitung der Quellen ist selbst dem
bloßen Forscher die Auffassung und Beurtheilung der von ihm gewonnenen
Thatsachen unerläßlich: die einzelnen Glieder hat er in eine Kette zu reihen
und nach ihrem Zusammenhange zu ordnen. Mit derartigen Studien sind
gegenwärtig in Deutschland Hunderte von älteren und jüngeren Forschern
beschäftigt: kunstvolle Darsteller dagegen giebt es nur wenige.

Auch wir halten heute daran fest, daß der höchste Preis nur demjenigen
gereicht wird, der ein Kunstwerk der Literatur zu schaffen versteht. Wir ver¬
langen von dem wahrhaften Historiker, daß er jene kritische Arbeit des Forschers
vollständig beherrscht und beweist, daß er zugleich aber die Resultate seiner
wissenschaftlichen Arbeit in einer Darstellung vorträgt, die jeden Leser über-
zeugt und belehrt und erfreuet.

Und wenn auch die großen Meisterwerke, wie sie Ranke und Sybel
undDroysen und Mommsen geliefert, nicht in allzugroßer Zahl vor¬
handen find und nicht alle Tage entstehen, so wird doch jeder unbefangene
Beobachter der historischen Literatur zugeben müssen, daß allenthalben das
Bestreben sich zeigt, jenen höheren Aufgaben gerecht zu werden. Einzelne»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/30>, abgerufen am 03.07.2024.