Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Zeit zu großer Berühmtheit gelangte Henry Irving als Hamlet auf und
diese Darstellung des Hamlet gehört sicherlich zu den hervorragendsten
Leistungen schauspielerischer Kunst. Aber neben ihm erschienen der König und
die Königin als die richtigen Kartenspielsiguren, die froh waren, wenn sie ihre
Rolle heruntergeleiert hatten, man merkte außer Hamlet. Laertes und Ophelia
sämmtlichen andern Künstlern und Künstlerinnen die Ermüdung augen¬
fällig an.

Wenn ferner vor der Ausführung von derartigen gottbegnadeter Schöpfun¬
gen eines Shakespeare über dieselbe Bühne eine fade Posse geht, wie dies jetzt
auch in London allgemein üblich ist, so muß man sich wirklich wundern, daß
der größte Schauspieldichter der neuern Zeit nicht noch aus dem Grabe herauf
gegen solche Entehrung protestirt. Shakespeare kannte sein Volk sehr gut
und er hat daher auch in die ernstesten Stücke humoristische Scenen für sein
Parterre und seine Gallerien eingeschaltet, aber wozu nun noch vor und nach
Shakespeare'schen Gestalten fade Dandys und kokettirende Stubenmädchen mit
schlechten Witzen?

Diese Geschmacksverirrung hängt innig mit einer andern Unsitte zu¬
sammen, die sich jetzt auf dem Drury Lane Theater, auf dem einst Garrick
spielte, breit macht. Dort wird in "Richard Löwenherz", einem großen
nationalen Schaustück ernsten Charakters, in welchem Oesterreich sehr schlecht
wegkommt, die englische Fahne auf der Bühne von einem großen prachtvollen
Neufundländer vertheidigt, der Hund tritt hier als handelnde Person auf und
führt, zuerst überwunden, später doch die Entscheidung herbei, indem er den
Räuber der Fahne entdeckt und ihm dadurch zur Bestrafung, seinem Herrn
aber zur Wiederaufnahme durch Richard Löwenherz verhilft. Also gemißt
maßen ein Hund als Hauptperson auf der ersten Schauspielbühne Londons!
Daß dabei auch große Ballets eingeschoben sind, möchte noch angehen, denn
das Stück ist hauptsächlich ein Schaustück, aber auch die Ballets könnten die
Engländer füglich bei Seite lassen,-denn wenn auch die zugehörigen Dekora¬
tionen und die Scenerien vorzüglich sind, wenn auch die Fertigkeit der Tänze¬
rinnen nichts zu wünschen übrig läßt, so fehlt ihnen doch die Grazie der Fran¬
zösinnen, ja sogar die der deutschen gänzlich; und was ist ein Ballet ohne
Liebreiz?

Nun zum Schluß noch einige Bemerkungen über das berühmte Wachs-
figurencabinet von Madame Tostand. Es wird mit Recht mit zu den ersten
Sehenswürdigkeiten von London gerechnet, denn sicherlich giebt es keine zweite
Ausstellung der Art, die solch' eine Fülle von berühmten Personen enthält,
die solche Eleganz der Anordnung zeigt und die in ihren abgetrennten Ge¬
mächern dem sogenannten "Napoleon Roon" so viel werthvolle Reliquien
des ersten französischen Kaisers und neuerdings auch seines Neffen zeigt-


Zeit zu großer Berühmtheit gelangte Henry Irving als Hamlet auf und
diese Darstellung des Hamlet gehört sicherlich zu den hervorragendsten
Leistungen schauspielerischer Kunst. Aber neben ihm erschienen der König und
die Königin als die richtigen Kartenspielsiguren, die froh waren, wenn sie ihre
Rolle heruntergeleiert hatten, man merkte außer Hamlet. Laertes und Ophelia
sämmtlichen andern Künstlern und Künstlerinnen die Ermüdung augen¬
fällig an.

Wenn ferner vor der Ausführung von derartigen gottbegnadeter Schöpfun¬
gen eines Shakespeare über dieselbe Bühne eine fade Posse geht, wie dies jetzt
auch in London allgemein üblich ist, so muß man sich wirklich wundern, daß
der größte Schauspieldichter der neuern Zeit nicht noch aus dem Grabe herauf
gegen solche Entehrung protestirt. Shakespeare kannte sein Volk sehr gut
und er hat daher auch in die ernstesten Stücke humoristische Scenen für sein
Parterre und seine Gallerien eingeschaltet, aber wozu nun noch vor und nach
Shakespeare'schen Gestalten fade Dandys und kokettirende Stubenmädchen mit
schlechten Witzen?

Diese Geschmacksverirrung hängt innig mit einer andern Unsitte zu¬
sammen, die sich jetzt auf dem Drury Lane Theater, auf dem einst Garrick
spielte, breit macht. Dort wird in „Richard Löwenherz", einem großen
nationalen Schaustück ernsten Charakters, in welchem Oesterreich sehr schlecht
wegkommt, die englische Fahne auf der Bühne von einem großen prachtvollen
Neufundländer vertheidigt, der Hund tritt hier als handelnde Person auf und
führt, zuerst überwunden, später doch die Entscheidung herbei, indem er den
Räuber der Fahne entdeckt und ihm dadurch zur Bestrafung, seinem Herrn
aber zur Wiederaufnahme durch Richard Löwenherz verhilft. Also gemißt
maßen ein Hund als Hauptperson auf der ersten Schauspielbühne Londons!
Daß dabei auch große Ballets eingeschoben sind, möchte noch angehen, denn
das Stück ist hauptsächlich ein Schaustück, aber auch die Ballets könnten die
Engländer füglich bei Seite lassen,-denn wenn auch die zugehörigen Dekora¬
tionen und die Scenerien vorzüglich sind, wenn auch die Fertigkeit der Tänze¬
rinnen nichts zu wünschen übrig läßt, so fehlt ihnen doch die Grazie der Fran¬
zösinnen, ja sogar die der deutschen gänzlich; und was ist ein Ballet ohne
Liebreiz?

Nun zum Schluß noch einige Bemerkungen über das berühmte Wachs-
figurencabinet von Madame Tostand. Es wird mit Recht mit zu den ersten
Sehenswürdigkeiten von London gerechnet, denn sicherlich giebt es keine zweite
Ausstellung der Art, die solch' eine Fülle von berühmten Personen enthält,
die solche Eleganz der Anordnung zeigt und die in ihren abgetrennten Ge¬
mächern dem sogenannten „Napoleon Roon" so viel werthvolle Reliquien
des ersten französischen Kaisers und neuerdings auch seines Neffen zeigt-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0230" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132990"/>
          <p xml:id="ID_775" prev="#ID_774"> Zeit zu großer Berühmtheit gelangte Henry Irving als Hamlet auf und<lb/>
diese Darstellung des Hamlet gehört sicherlich zu den hervorragendsten<lb/>
Leistungen schauspielerischer Kunst. Aber neben ihm erschienen der König und<lb/>
die Königin als die richtigen Kartenspielsiguren, die froh waren, wenn sie ihre<lb/>
Rolle heruntergeleiert hatten, man merkte außer Hamlet. Laertes und Ophelia<lb/>
sämmtlichen andern Künstlern und Künstlerinnen die Ermüdung augen¬<lb/>
fällig an.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_776"> Wenn ferner vor der Ausführung von derartigen gottbegnadeter Schöpfun¬<lb/>
gen eines Shakespeare über dieselbe Bühne eine fade Posse geht, wie dies jetzt<lb/>
auch in London allgemein üblich ist, so muß man sich wirklich wundern, daß<lb/>
der größte Schauspieldichter der neuern Zeit nicht noch aus dem Grabe herauf<lb/>
gegen solche Entehrung protestirt. Shakespeare kannte sein Volk sehr gut<lb/>
und er hat daher auch in die ernstesten Stücke humoristische Scenen für sein<lb/>
Parterre und seine Gallerien eingeschaltet, aber wozu nun noch vor und nach<lb/>
Shakespeare'schen Gestalten fade Dandys und kokettirende Stubenmädchen mit<lb/>
schlechten Witzen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_777"> Diese Geschmacksverirrung hängt innig mit einer andern Unsitte zu¬<lb/>
sammen, die sich jetzt auf dem Drury Lane Theater, auf dem einst Garrick<lb/>
spielte, breit macht. Dort wird in &#x201E;Richard Löwenherz", einem großen<lb/>
nationalen Schaustück ernsten Charakters, in welchem Oesterreich sehr schlecht<lb/>
wegkommt, die englische Fahne auf der Bühne von einem großen prachtvollen<lb/>
Neufundländer vertheidigt, der Hund tritt hier als handelnde Person auf und<lb/>
führt, zuerst überwunden, später doch die Entscheidung herbei, indem er den<lb/>
Räuber der Fahne entdeckt und ihm dadurch zur Bestrafung, seinem Herrn<lb/>
aber zur Wiederaufnahme durch Richard Löwenherz verhilft. Also gemißt<lb/>
maßen ein Hund als Hauptperson auf der ersten Schauspielbühne Londons!<lb/>
Daß dabei auch große Ballets eingeschoben sind, möchte noch angehen, denn<lb/>
das Stück ist hauptsächlich ein Schaustück, aber auch die Ballets könnten die<lb/>
Engländer füglich bei Seite lassen,-denn wenn auch die zugehörigen Dekora¬<lb/>
tionen und die Scenerien vorzüglich sind, wenn auch die Fertigkeit der Tänze¬<lb/>
rinnen nichts zu wünschen übrig läßt, so fehlt ihnen doch die Grazie der Fran¬<lb/>
zösinnen, ja sogar die der deutschen gänzlich; und was ist ein Ballet ohne<lb/>
Liebreiz?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_778" next="#ID_779"> Nun zum Schluß noch einige Bemerkungen über das berühmte Wachs-<lb/>
figurencabinet von Madame Tostand. Es wird mit Recht mit zu den ersten<lb/>
Sehenswürdigkeiten von London gerechnet, denn sicherlich giebt es keine zweite<lb/>
Ausstellung der Art, die solch' eine Fülle von berühmten Personen enthält,<lb/>
die solche Eleganz der Anordnung zeigt und die in ihren abgetrennten Ge¬<lb/>
mächern dem sogenannten &#x201E;Napoleon Roon" so viel werthvolle Reliquien<lb/>
des ersten französischen Kaisers und neuerdings auch seines Neffen zeigt-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0230] Zeit zu großer Berühmtheit gelangte Henry Irving als Hamlet auf und diese Darstellung des Hamlet gehört sicherlich zu den hervorragendsten Leistungen schauspielerischer Kunst. Aber neben ihm erschienen der König und die Königin als die richtigen Kartenspielsiguren, die froh waren, wenn sie ihre Rolle heruntergeleiert hatten, man merkte außer Hamlet. Laertes und Ophelia sämmtlichen andern Künstlern und Künstlerinnen die Ermüdung augen¬ fällig an. Wenn ferner vor der Ausführung von derartigen gottbegnadeter Schöpfun¬ gen eines Shakespeare über dieselbe Bühne eine fade Posse geht, wie dies jetzt auch in London allgemein üblich ist, so muß man sich wirklich wundern, daß der größte Schauspieldichter der neuern Zeit nicht noch aus dem Grabe herauf gegen solche Entehrung protestirt. Shakespeare kannte sein Volk sehr gut und er hat daher auch in die ernstesten Stücke humoristische Scenen für sein Parterre und seine Gallerien eingeschaltet, aber wozu nun noch vor und nach Shakespeare'schen Gestalten fade Dandys und kokettirende Stubenmädchen mit schlechten Witzen? Diese Geschmacksverirrung hängt innig mit einer andern Unsitte zu¬ sammen, die sich jetzt auf dem Drury Lane Theater, auf dem einst Garrick spielte, breit macht. Dort wird in „Richard Löwenherz", einem großen nationalen Schaustück ernsten Charakters, in welchem Oesterreich sehr schlecht wegkommt, die englische Fahne auf der Bühne von einem großen prachtvollen Neufundländer vertheidigt, der Hund tritt hier als handelnde Person auf und führt, zuerst überwunden, später doch die Entscheidung herbei, indem er den Räuber der Fahne entdeckt und ihm dadurch zur Bestrafung, seinem Herrn aber zur Wiederaufnahme durch Richard Löwenherz verhilft. Also gemißt maßen ein Hund als Hauptperson auf der ersten Schauspielbühne Londons! Daß dabei auch große Ballets eingeschoben sind, möchte noch angehen, denn das Stück ist hauptsächlich ein Schaustück, aber auch die Ballets könnten die Engländer füglich bei Seite lassen,-denn wenn auch die zugehörigen Dekora¬ tionen und die Scenerien vorzüglich sind, wenn auch die Fertigkeit der Tänze¬ rinnen nichts zu wünschen übrig läßt, so fehlt ihnen doch die Grazie der Fran¬ zösinnen, ja sogar die der deutschen gänzlich; und was ist ein Ballet ohne Liebreiz? Nun zum Schluß noch einige Bemerkungen über das berühmte Wachs- figurencabinet von Madame Tostand. Es wird mit Recht mit zu den ersten Sehenswürdigkeiten von London gerechnet, denn sicherlich giebt es keine zweite Ausstellung der Art, die solch' eine Fülle von berühmten Personen enthält, die solche Eleganz der Anordnung zeigt und die in ihren abgetrennten Ge¬ mächern dem sogenannten „Napoleon Roon" so viel werthvolle Reliquien des ersten französischen Kaisers und neuerdings auch seines Neffen zeigt-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/230
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/230>, abgerufen am 03.07.2024.