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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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er kann sogar das schwerste Leid und die fürchterlichste Lage, in die ein
Mensch gerathen kann -- sein Mr. Philipp Wentworth z. B. wird im
Todtengewölbe seiner plötzlich gestorbenen Braut vergessen und eingeschlossen
-- mit einer realistischen und doch poetischen Anschaulichkeit schildern, daß
man glaubt, nur diese Schilderung sei der Zweck des Dichters. Aber im
Grund ist das keineswegs seine Hauptabsicht. Aldrich verfolgt sicherlich unter
anderm auch den Zweck, uns zu spannen, für seine Helden mit Interesse und
Sympathie, wohl auch mit Zittern und Zagen zu erfüllen, oder unser Ge¬
müth auf einen tragischen Ausgang vorzubereiten. Aber der Haupt- und
Endzweck aller seiner Sachen ist doch, uns ein herzliches Lachen abzugewinnen,
und zwar nicht am wenigsten über uns selbst, daß wir uns von seiner Dar¬
stellungskunst verleiten ließen, bange zu werden und den Scherz für Ernst zu
nehmen. Aldrich als ehrlicher offener Humorist wird nie zulassen, daß eine
Geschichte übel endet.

Das wird uns schon bei der ersten Bekanntschaft mit ihm zur Gewißheit
und er ist so anständig. Wort zu halten. Der arme Mr. Philip Wentworth
z. B., der nach der Erzählung eines Mr. H. seine pariser Braut gerade in
dem Augenblick verlor, als er im Begriff stand, sie zu heirathen und auf ein
neuerkauftes Landhaus bei Paris zu führen, und der dann, im Dunkel der
Grabgewölbe des Montmartre lebendig begraben, das Grablicht ausißt, um
sich seiner Familie zu erhalten und, nach einer Stunde und zwanzig Minuten
Aufenthalt im Grabe, mit grauen Haaren wieder an die Erdoberfläche be¬
fördert wird. -- Dieser unselige Mr. Wentworth ist bei Lichte besehen gar
nicht Mr. Wentworth. sondern Mr. Jones, auch nie im Fall gewesen, eine
Braut zu verlieren oder lebendig begraben zu werden. Unbestreitbar ist nur,
daß er graue Haare bei jungen Zügen und Muskeln hat. und das hat dem
Mr. H. "einem Mann mit literarischen Neigungen, der beim Brüten über
einem großen amerikanischen Roman, der noch nicht geschaffen ist, ein bische"
von seinem Verstände eingebüßt hat", Gelegenheit gegeben, Mr. Aldrich "zuo
Besten zu halten, um thatsächlich die Wirkung eines seiner Capitel an ihm
zu Probiren." Das hält natürlich Mr. Aldrich nicht ab. uns die Geschichte
mit der vollendeten Täuschung zu erzählen, der er selbst angeblich zum Opfer
gefallen ist. Diese Täuschung des Lesers über die wahre Natur der Haupt¬
person oder mehrerer Personen bildet fast durchgehends den Haupteffect des
Humors -bei Aldrich und sie wird meist mit um so größerer Sicherheet
erreicht, weil alle andern handelnden Personen gleichfalls sich so benehmen,
als ob sie vollkommen an die Täuschung glaubten oder in der That wirklich
daran glauben, so daß bei uns jeder Zweifel dann schwindet, daß Alles was
Aldrich uns zu erzählen für gut findet, auch wirklich wahr sei. Erst ganz
am Ende der Geschichte merken wir, daß wir ebenso vollständig wie die


er kann sogar das schwerste Leid und die fürchterlichste Lage, in die ein
Mensch gerathen kann — sein Mr. Philipp Wentworth z. B. wird im
Todtengewölbe seiner plötzlich gestorbenen Braut vergessen und eingeschlossen
— mit einer realistischen und doch poetischen Anschaulichkeit schildern, daß
man glaubt, nur diese Schilderung sei der Zweck des Dichters. Aber im
Grund ist das keineswegs seine Hauptabsicht. Aldrich verfolgt sicherlich unter
anderm auch den Zweck, uns zu spannen, für seine Helden mit Interesse und
Sympathie, wohl auch mit Zittern und Zagen zu erfüllen, oder unser Ge¬
müth auf einen tragischen Ausgang vorzubereiten. Aber der Haupt- und
Endzweck aller seiner Sachen ist doch, uns ein herzliches Lachen abzugewinnen,
und zwar nicht am wenigsten über uns selbst, daß wir uns von seiner Dar¬
stellungskunst verleiten ließen, bange zu werden und den Scherz für Ernst zu
nehmen. Aldrich als ehrlicher offener Humorist wird nie zulassen, daß eine
Geschichte übel endet.

Das wird uns schon bei der ersten Bekanntschaft mit ihm zur Gewißheit
und er ist so anständig. Wort zu halten. Der arme Mr. Philip Wentworth
z. B., der nach der Erzählung eines Mr. H. seine pariser Braut gerade in
dem Augenblick verlor, als er im Begriff stand, sie zu heirathen und auf ein
neuerkauftes Landhaus bei Paris zu führen, und der dann, im Dunkel der
Grabgewölbe des Montmartre lebendig begraben, das Grablicht ausißt, um
sich seiner Familie zu erhalten und, nach einer Stunde und zwanzig Minuten
Aufenthalt im Grabe, mit grauen Haaren wieder an die Erdoberfläche be¬
fördert wird. — Dieser unselige Mr. Wentworth ist bei Lichte besehen gar
nicht Mr. Wentworth. sondern Mr. Jones, auch nie im Fall gewesen, eine
Braut zu verlieren oder lebendig begraben zu werden. Unbestreitbar ist nur,
daß er graue Haare bei jungen Zügen und Muskeln hat. und das hat dem
Mr. H. „einem Mann mit literarischen Neigungen, der beim Brüten über
einem großen amerikanischen Roman, der noch nicht geschaffen ist, ein bische"
von seinem Verstände eingebüßt hat", Gelegenheit gegeben, Mr. Aldrich „zuo
Besten zu halten, um thatsächlich die Wirkung eines seiner Capitel an ihm
zu Probiren." Das hält natürlich Mr. Aldrich nicht ab. uns die Geschichte
mit der vollendeten Täuschung zu erzählen, der er selbst angeblich zum Opfer
gefallen ist. Diese Täuschung des Lesers über die wahre Natur der Haupt¬
person oder mehrerer Personen bildet fast durchgehends den Haupteffect des
Humors -bei Aldrich und sie wird meist mit um so größerer Sicherheet
erreicht, weil alle andern handelnden Personen gleichfalls sich so benehmen,
als ob sie vollkommen an die Täuschung glaubten oder in der That wirklich
daran glauben, so daß bei uns jeder Zweifel dann schwindet, daß Alles was
Aldrich uns zu erzählen für gut findet, auch wirklich wahr sei. Erst ganz
am Ende der Geschichte merken wir, daß wir ebenso vollständig wie die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/98>, abgerufen am 29.12.2024.