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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Immaterielles als wirkend, als wirklich, annahmen. Der Begriff, in dem sie
die scheinbar widersprechenden Principien, die mechanische Causalität und
den Zweck, zusammenbanden, war der ^/c,s avrs^", ,x<;?, der sich theilt
in unzählige <5?r"^""ex<,t oder Samenkeime. Diese vernünftigen
Ursamen -- der Name "Atom" würde für sie nicht bezeichnend sein, --
sind materiell und enthalten in sich dynamisch die ganze Entwickelung
der Welt, indem sie sich bald zu dem einen Gebilde oder Organismus,
bald zu dem andern gestalten. Nach dem strengen Gesetz von Ursache und
Wirkung ist ihre eigene Entfaltung und sind ihre Einwirkungen auf die sie
umgebenden Stoffe nur möglich, aber doch gehen sie auf bestimmte Ziele, auf
bestimmte Formen los, die sie in nuev in sich bergen, ohne etwa Typen für
die entstehenden Gestalten zu sein, also ohne alle Ähnlichkeit mit den pla¬
tonischen Ideen, mit denen man sie öfter zusammenstellt. Nicht Vorbilder
sind sie, nicht Allgemeines oder Gattungsbegriffe, welche bei den Stoikern
keine reale Existenz hatten, sondern auf etwas Individuelles stets angelegt
und in dasselbe ausgehend.

Der Begriff ist von der Stoa nicht weiter ausgebildet, oder wir finden
ihn wenigstens in den fragmentarischen Berichten über diese Schule nicht
näher durchgeführt, aber ohne Zweifel ist er einer der wesentlichsten in der
stoischen Philosophie und hätte eine größere Bedeutung gewinnen sollen, da
in ihm die drei wichtigsten Prinzipien in der Philosophie: mechanische Ursache,
Materie und Zweck, mit einander vereinigt sind. Die Harmonie der ganzen
Welt wurde dann durch den allwaltenden Logos, welcher alle diese Samen in
sich zusammenfaßt zu einer Einheit, hervorgebracht und erhalten. -- Man
"Mg über diese Lehre abschätzig urtheilen; als ein Verdienst muß den Stoikern
der Versuch die entgegengesetzten Standpunkte zu versöhnen, immerhin an¬
gerechnet werden.

In ganz andrer Weise als diese alten, ernsten, häufig nicht genug ge¬
würdigten Denker, unternahm es Leibniz, Causalität und Teleologie zu ver¬
einen, und er stellte geradezu in seinen jüngeren Jahren es als Aufgabe seines
Gebens hin, die Atomistik des Demokrit mit den substanziellen Formen des
Aristoteles in Einklang zu bringen. Als strenger Mathematiker mußte er der
Mechanischen Weltanschauung huldigen, aber als umfassender Geist hielt er da-
sür. auch in der Teleologie sei Wahrheit, und so müßten die Gegensätze ver¬
einigt werden, wie er überhaupt es für Beschränktheit ansah, wenn jemand
"und auf anderm Gebiete in einem Gegensatze verharrte. Hatten nun die
Stoiker in ihrem Monismus alles Geistige zur Materie gemacht, so machte
umgekehrt Leibniz alles Materielle zu Geist, oder wenigstens zu Monaden,
d- h. zu metaphysischen Punkten, deren Kraft das Vorstellen ist. Trotzdem
gelangt er zur Materie und zu Körpern, freilich auf etwas schwierige Weise.


Grenzboten IV. 1874.

Immaterielles als wirkend, als wirklich, annahmen. Der Begriff, in dem sie
die scheinbar widersprechenden Principien, die mechanische Causalität und
den Zweck, zusammenbanden, war der ^/c,s avrs^«, ,x<;?, der sich theilt
in unzählige <5?r«^««ex<,t oder Samenkeime. Diese vernünftigen
Ursamen — der Name „Atom" würde für sie nicht bezeichnend sein, —
sind materiell und enthalten in sich dynamisch die ganze Entwickelung
der Welt, indem sie sich bald zu dem einen Gebilde oder Organismus,
bald zu dem andern gestalten. Nach dem strengen Gesetz von Ursache und
Wirkung ist ihre eigene Entfaltung und sind ihre Einwirkungen auf die sie
umgebenden Stoffe nur möglich, aber doch gehen sie auf bestimmte Ziele, auf
bestimmte Formen los, die sie in nuev in sich bergen, ohne etwa Typen für
die entstehenden Gestalten zu sein, also ohne alle Ähnlichkeit mit den pla¬
tonischen Ideen, mit denen man sie öfter zusammenstellt. Nicht Vorbilder
sind sie, nicht Allgemeines oder Gattungsbegriffe, welche bei den Stoikern
keine reale Existenz hatten, sondern auf etwas Individuelles stets angelegt
und in dasselbe ausgehend.

Der Begriff ist von der Stoa nicht weiter ausgebildet, oder wir finden
ihn wenigstens in den fragmentarischen Berichten über diese Schule nicht
näher durchgeführt, aber ohne Zweifel ist er einer der wesentlichsten in der
stoischen Philosophie und hätte eine größere Bedeutung gewinnen sollen, da
in ihm die drei wichtigsten Prinzipien in der Philosophie: mechanische Ursache,
Materie und Zweck, mit einander vereinigt sind. Die Harmonie der ganzen
Welt wurde dann durch den allwaltenden Logos, welcher alle diese Samen in
sich zusammenfaßt zu einer Einheit, hervorgebracht und erhalten. — Man
"Mg über diese Lehre abschätzig urtheilen; als ein Verdienst muß den Stoikern
der Versuch die entgegengesetzten Standpunkte zu versöhnen, immerhin an¬
gerechnet werden.

In ganz andrer Weise als diese alten, ernsten, häufig nicht genug ge¬
würdigten Denker, unternahm es Leibniz, Causalität und Teleologie zu ver¬
einen, und er stellte geradezu in seinen jüngeren Jahren es als Aufgabe seines
Gebens hin, die Atomistik des Demokrit mit den substanziellen Formen des
Aristoteles in Einklang zu bringen. Als strenger Mathematiker mußte er der
Mechanischen Weltanschauung huldigen, aber als umfassender Geist hielt er da-
sür. auch in der Teleologie sei Wahrheit, und so müßten die Gegensätze ver¬
einigt werden, wie er überhaupt es für Beschränktheit ansah, wenn jemand
"und auf anderm Gebiete in einem Gegensatze verharrte. Hatten nun die
Stoiker in ihrem Monismus alles Geistige zur Materie gemacht, so machte
umgekehrt Leibniz alles Materielle zu Geist, oder wenigstens zu Monaden,
d- h. zu metaphysischen Punkten, deren Kraft das Vorstellen ist. Trotzdem
gelangt er zur Materie und zu Körpern, freilich auf etwas schwierige Weise.


Grenzboten IV. 1874.
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[0093] Immaterielles als wirkend, als wirklich, annahmen. Der Begriff, in dem sie die scheinbar widersprechenden Principien, die mechanische Causalität und den Zweck, zusammenbanden, war der ^/c,s avrs^«, ,x<;?, der sich theilt in unzählige <5?r«^««ex<,t oder Samenkeime. Diese vernünftigen Ursamen — der Name „Atom" würde für sie nicht bezeichnend sein, — sind materiell und enthalten in sich dynamisch die ganze Entwickelung der Welt, indem sie sich bald zu dem einen Gebilde oder Organismus, bald zu dem andern gestalten. Nach dem strengen Gesetz von Ursache und Wirkung ist ihre eigene Entfaltung und sind ihre Einwirkungen auf die sie umgebenden Stoffe nur möglich, aber doch gehen sie auf bestimmte Ziele, auf bestimmte Formen los, die sie in nuev in sich bergen, ohne etwa Typen für die entstehenden Gestalten zu sein, also ohne alle Ähnlichkeit mit den pla¬ tonischen Ideen, mit denen man sie öfter zusammenstellt. Nicht Vorbilder sind sie, nicht Allgemeines oder Gattungsbegriffe, welche bei den Stoikern keine reale Existenz hatten, sondern auf etwas Individuelles stets angelegt und in dasselbe ausgehend. Der Begriff ist von der Stoa nicht weiter ausgebildet, oder wir finden ihn wenigstens in den fragmentarischen Berichten über diese Schule nicht näher durchgeführt, aber ohne Zweifel ist er einer der wesentlichsten in der stoischen Philosophie und hätte eine größere Bedeutung gewinnen sollen, da in ihm die drei wichtigsten Prinzipien in der Philosophie: mechanische Ursache, Materie und Zweck, mit einander vereinigt sind. Die Harmonie der ganzen Welt wurde dann durch den allwaltenden Logos, welcher alle diese Samen in sich zusammenfaßt zu einer Einheit, hervorgebracht und erhalten. — Man "Mg über diese Lehre abschätzig urtheilen; als ein Verdienst muß den Stoikern der Versuch die entgegengesetzten Standpunkte zu versöhnen, immerhin an¬ gerechnet werden. In ganz andrer Weise als diese alten, ernsten, häufig nicht genug ge¬ würdigten Denker, unternahm es Leibniz, Causalität und Teleologie zu ver¬ einen, und er stellte geradezu in seinen jüngeren Jahren es als Aufgabe seines Gebens hin, die Atomistik des Demokrit mit den substanziellen Formen des Aristoteles in Einklang zu bringen. Als strenger Mathematiker mußte er der Mechanischen Weltanschauung huldigen, aber als umfassender Geist hielt er da- sür. auch in der Teleologie sei Wahrheit, und so müßten die Gegensätze ver¬ einigt werden, wie er überhaupt es für Beschränktheit ansah, wenn jemand "und auf anderm Gebiete in einem Gegensatze verharrte. Hatten nun die Stoiker in ihrem Monismus alles Geistige zur Materie gemacht, so machte umgekehrt Leibniz alles Materielle zu Geist, oder wenigstens zu Monaden, d- h. zu metaphysischen Punkten, deren Kraft das Vorstellen ist. Trotzdem gelangt er zur Materie und zu Körpern, freilich auf etwas schwierige Weise. Grenzboten IV. 1874.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/93>, abgerufen am 27.07.2024.