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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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auch der Essayist jetzt der eigensten Lebenserfahrungen aus Kindheit und
Jugend, um seines Helden Entwickelung zu erklären, im nächsten Moment wieder
der Vertrautheit mit mathematischen oder naturwissenschaftlichen Gesetzen oder
den kühnsten Speculationen der Metaphysik, um ein künstlerisches oder politi¬
sches Problem zu lösen, unmittelbar darauf der Literatur der Griechen oder
der jüngsten Ereignisse der Weltgeschichte. --

Herman Grimm bietet uns in seiner Person. in seinem Talent diese
nothwendigen Vorbedingungen des Essayisten. Er ist außerdem gewöhnt an
eine strenge Handhabung des Stils, einen Wohllaut der Sprache, die auf
das Freudigste berühren. Seine Sprache ist bilderreich, gedankensprühend,
mitunter so erfüllt von Bildern und Gedanken, daß das rasche Fortkommen
schwer fällt. Aber um so größer ist der Umblick, den man gewonnen, wenn
man einen Augenblick bedächtig innegehalten. Seine Darstellung, namentlich
auch in seinen politischen Essays, ist trotzdem merklich ruhiger als diejenige
Treitschke's. Treitschke schreibt immer mit jenem rhetorischen Pathos, das
zuerst seine Vorlesungen und Reden in Leipzig berühmt machte. Treitschke
ist unter Particularisten aufgewachsen und jahrelang fast einsam gestanden
mit seinem nationalen Schmerz und seinen nationalen Hoffnungen. Das
Bekenntniß und der Kampf für diese Ideen hat ihn aus dem Vaterhaus,
aus der Heimath, dem selbstgeschaffenen Kreise seines ersten academischen
Wirkens getrieben. Immer hat er sich darauf einrichten müssen, unter zehn
Freunden seiner Ansichten hundert Gegner zu finden. Daher noch heute,
so oft er zur Feder greift, jene innerste Erregtheit, jener überzeugende
Schwung in seinen Worten; daher immer die Lenkung der Ansichten und des
Willens der Leser oder Hörer das vornehmste Ziel seiner Feder wie seiner
Rede. Nicht lange Ueberlegung bezweckt er, sondern die sofortige Vollziehung
der That, die der Verfasser für nothwendig hält. Herman Grimm dagegen
ist aufgewachsen in jenem klassisch ruhigen und sichern Kreise, der sich um
das Leben und Wirken seines Vaters und seines Onkels wob. Ein einziges
Mal, als er noch Knabe war, hat der wüste kleinstaatliche Particularismus
auch die Gebrüder Grimm aus ihrer stillen Arbeit aufgescheucht und heimathlos
aus Göttingen getrieben. Aber nur zu ihrem, zu Herman's Segen. Seitdem
sie in Berlin wirkten, war ihr Haus einer der Mittelpunkte des geistigen
Lebens der Nation. Hier verkehrten Jahr aus Jahr ein die vornehmsten
Geister Deutschlands. In guten und bösen Tagen der nationalen Ent¬
wickelung wurde hier an die Vollendung der deutschen Einheit durch Preußen
mit jener erhabenen Geduld und Sicherheit geglaubt, welche jene Heroen der
deutschen Sprachwissenschaft in allem ihrem Thun auszeichnet. Nach taufenden
von Jahren zählten sie die Entwickelung der Sprachlaute, in denen heute
unser Volk redet. Warum sollte ein Geschlecht erlangen, des Vaterlandes


auch der Essayist jetzt der eigensten Lebenserfahrungen aus Kindheit und
Jugend, um seines Helden Entwickelung zu erklären, im nächsten Moment wieder
der Vertrautheit mit mathematischen oder naturwissenschaftlichen Gesetzen oder
den kühnsten Speculationen der Metaphysik, um ein künstlerisches oder politi¬
sches Problem zu lösen, unmittelbar darauf der Literatur der Griechen oder
der jüngsten Ereignisse der Weltgeschichte. —

Herman Grimm bietet uns in seiner Person. in seinem Talent diese
nothwendigen Vorbedingungen des Essayisten. Er ist außerdem gewöhnt an
eine strenge Handhabung des Stils, einen Wohllaut der Sprache, die auf
das Freudigste berühren. Seine Sprache ist bilderreich, gedankensprühend,
mitunter so erfüllt von Bildern und Gedanken, daß das rasche Fortkommen
schwer fällt. Aber um so größer ist der Umblick, den man gewonnen, wenn
man einen Augenblick bedächtig innegehalten. Seine Darstellung, namentlich
auch in seinen politischen Essays, ist trotzdem merklich ruhiger als diejenige
Treitschke's. Treitschke schreibt immer mit jenem rhetorischen Pathos, das
zuerst seine Vorlesungen und Reden in Leipzig berühmt machte. Treitschke
ist unter Particularisten aufgewachsen und jahrelang fast einsam gestanden
mit seinem nationalen Schmerz und seinen nationalen Hoffnungen. Das
Bekenntniß und der Kampf für diese Ideen hat ihn aus dem Vaterhaus,
aus der Heimath, dem selbstgeschaffenen Kreise seines ersten academischen
Wirkens getrieben. Immer hat er sich darauf einrichten müssen, unter zehn
Freunden seiner Ansichten hundert Gegner zu finden. Daher noch heute,
so oft er zur Feder greift, jene innerste Erregtheit, jener überzeugende
Schwung in seinen Worten; daher immer die Lenkung der Ansichten und des
Willens der Leser oder Hörer das vornehmste Ziel seiner Feder wie seiner
Rede. Nicht lange Ueberlegung bezweckt er, sondern die sofortige Vollziehung
der That, die der Verfasser für nothwendig hält. Herman Grimm dagegen
ist aufgewachsen in jenem klassisch ruhigen und sichern Kreise, der sich um
das Leben und Wirken seines Vaters und seines Onkels wob. Ein einziges
Mal, als er noch Knabe war, hat der wüste kleinstaatliche Particularismus
auch die Gebrüder Grimm aus ihrer stillen Arbeit aufgescheucht und heimathlos
aus Göttingen getrieben. Aber nur zu ihrem, zu Herman's Segen. Seitdem
sie in Berlin wirkten, war ihr Haus einer der Mittelpunkte des geistigen
Lebens der Nation. Hier verkehrten Jahr aus Jahr ein die vornehmsten
Geister Deutschlands. In guten und bösen Tagen der nationalen Ent¬
wickelung wurde hier an die Vollendung der deutschen Einheit durch Preußen
mit jener erhabenen Geduld und Sicherheit geglaubt, welche jene Heroen der
deutschen Sprachwissenschaft in allem ihrem Thun auszeichnet. Nach taufenden
von Jahren zählten sie die Entwickelung der Sprachlaute, in denen heute
unser Volk redet. Warum sollte ein Geschlecht erlangen, des Vaterlandes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/9>, abgerufen am 27.07.2024.