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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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literarischen, musikalischen, bildnerischen Novitäten gerecht werden, wenn man
nur strenggelehrte Monographien darüber schreiben dürfte? Ebensowenig aber
als das literarische Staffeleigemälde würde die Bedürfnisse des großen, ja des
gewählten Publikums die literarische Skizze befriedigen. Die Naturlaute des
menschlichen Geistes sprechen eben nicht so unmittelbar zu Sinn und Empfin¬
dung, wie Form und Farbe der Landschaft, der menschlichen Gestalt, des
Stilllebens oder Thierkörpers. Sie bedürfen der Klärung und Durcharbeitung,
um fruchtbar und genußbringend auf Andere zu wirken. Alternde berühmte
Schriftsteller, die nach jenem köstlichen chinesischen Märchen Hans Hopfen's
den Zauber ihrer Feder erkannt haben: daß sie schreiben dürfen, was sie
wollen, und dennoch sicher sind, Beifall zu finden -- beschenken uns in ihren
impotenten Tagen etwa einmal mit solchen Skizzen. Jugenderfahrungen und
Altersreflerionen, Leseschnitzel und sog. gute Witze ihrer Bekannten erhalten
wir da in abgerissenen Sätzen -- am liebsten in der Form des Tagebuchs
des greisenhafter Roman-Helden -- und fühlen uns unendlich gelangweilt
und verdrossen. Sollte aber ein Anfänger wagen, uns mit seinen Skizzen zu
behelligen, wie etwa ein junger Künstler mit unfertigen Bildern, so klappen
wir das Buch nach den ersten zwei Seiten empört zu und merken uns den
Mann für künftige Fälle.

Dagegen bietet das Material der Skizze in derselben Weise die be¬
fruchtende Grundlage für den Essay wie in der bildenden Kunst für die
Studie. Nur ist hier wie dort die poetische Intuition unentbehrlich für die
künstlerische Ausgestaltung. Ein hervorragender Träger der Wissenschaft, der
Staatspolitik, der Literatur oder Kunst seines Volkes soll zum Gegenstand
eines Essay gemacht werden. Die Ausgabe erfüllt den Schriftsteller voll¬
ständig -- er muß davon erfüllt sein, wenn er sie lösen soll -- im Wachen
und im Träumen, am Arbeitstisch, auf dem einsamen Spaziergang, selbst im
Rasseln des Eisenbahnzugs oder im traulichen Geplauder des Familienabends.
Was über den Stoff zu lesen war, hat er gelesen, den Quellen ist er so
gründlich nachgegangen wie der Gelehrte von Fach, die Werke und Thaten
seines Helden hat er sich angeeignet. Und dennoch ist damit erst das Roh¬
material zu der Arbeit gewonnen, die nun begonnen werden soll. Nicht den
einzelnen Mann, nicht seinen Werdegang und seine Leistungen allein will der
Essay schildern. Vielmehr soll der Leser die eigenthümliche Stellung und
Bedeutung jenes Mannes in seinem Volke, in seiner Zeit, in dem gesammten
Kulturleben der Menschheit erkennen. Das kann nur durch eine, im besten
Sinne universelle Bildung, durch ein ungewöhnliches Aperceptionsvermögen
und ein gewisses poetisches Jndigenat erreicht werden. Alle Wissenschaft und
alle menschliche Erkenntniß sollten zur Verfügung stehen, um einen Aus¬
erwählten des menschlichen Geistes uns allseitig zu schildern. So bedarf


literarischen, musikalischen, bildnerischen Novitäten gerecht werden, wenn man
nur strenggelehrte Monographien darüber schreiben dürfte? Ebensowenig aber
als das literarische Staffeleigemälde würde die Bedürfnisse des großen, ja des
gewählten Publikums die literarische Skizze befriedigen. Die Naturlaute des
menschlichen Geistes sprechen eben nicht so unmittelbar zu Sinn und Empfin¬
dung, wie Form und Farbe der Landschaft, der menschlichen Gestalt, des
Stilllebens oder Thierkörpers. Sie bedürfen der Klärung und Durcharbeitung,
um fruchtbar und genußbringend auf Andere zu wirken. Alternde berühmte
Schriftsteller, die nach jenem köstlichen chinesischen Märchen Hans Hopfen's
den Zauber ihrer Feder erkannt haben: daß sie schreiben dürfen, was sie
wollen, und dennoch sicher sind, Beifall zu finden — beschenken uns in ihren
impotenten Tagen etwa einmal mit solchen Skizzen. Jugenderfahrungen und
Altersreflerionen, Leseschnitzel und sog. gute Witze ihrer Bekannten erhalten
wir da in abgerissenen Sätzen — am liebsten in der Form des Tagebuchs
des greisenhafter Roman-Helden — und fühlen uns unendlich gelangweilt
und verdrossen. Sollte aber ein Anfänger wagen, uns mit seinen Skizzen zu
behelligen, wie etwa ein junger Künstler mit unfertigen Bildern, so klappen
wir das Buch nach den ersten zwei Seiten empört zu und merken uns den
Mann für künftige Fälle.

Dagegen bietet das Material der Skizze in derselben Weise die be¬
fruchtende Grundlage für den Essay wie in der bildenden Kunst für die
Studie. Nur ist hier wie dort die poetische Intuition unentbehrlich für die
künstlerische Ausgestaltung. Ein hervorragender Träger der Wissenschaft, der
Staatspolitik, der Literatur oder Kunst seines Volkes soll zum Gegenstand
eines Essay gemacht werden. Die Ausgabe erfüllt den Schriftsteller voll¬
ständig — er muß davon erfüllt sein, wenn er sie lösen soll — im Wachen
und im Träumen, am Arbeitstisch, auf dem einsamen Spaziergang, selbst im
Rasseln des Eisenbahnzugs oder im traulichen Geplauder des Familienabends.
Was über den Stoff zu lesen war, hat er gelesen, den Quellen ist er so
gründlich nachgegangen wie der Gelehrte von Fach, die Werke und Thaten
seines Helden hat er sich angeeignet. Und dennoch ist damit erst das Roh¬
material zu der Arbeit gewonnen, die nun begonnen werden soll. Nicht den
einzelnen Mann, nicht seinen Werdegang und seine Leistungen allein will der
Essay schildern. Vielmehr soll der Leser die eigenthümliche Stellung und
Bedeutung jenes Mannes in seinem Volke, in seiner Zeit, in dem gesammten
Kulturleben der Menschheit erkennen. Das kann nur durch eine, im besten
Sinne universelle Bildung, durch ein ungewöhnliches Aperceptionsvermögen
und ein gewisses poetisches Jndigenat erreicht werden. Alle Wissenschaft und
alle menschliche Erkenntniß sollten zur Verfügung stehen, um einen Aus¬
erwählten des menschlichen Geistes uns allseitig zu schildern. So bedarf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/8>, abgerufen am 27.07.2024.