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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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selben Augenblicke, wo wir die volle Gewißheit erlangen, daß diese zwei
Menschen sich niemals wieder verstehen werden? Und so ist die Lage am
Schluß des dritten Acts. Marianne hat der Entrüstung über die Schande,
welche der Gatte ihr zugefügt, als er sie unter das Schwert stellte, freien
Lauf gelassen. Nun, da sie ihn zerknirscht sieht, geht ihr die beseligende
Hoffnung auf, daß er sein Unrecht begreife und bereue, und daß sich noch
Alles zum Guten wenden könne. Wir aber wissen, daß er gar keine Empfin¬
dung hat von der verübten Unbill, sondern daß ihn allein der Argwohn er¬
füllt, Marianne habe das Geheimniß durch den Bruch der ehelichen Treue
erkauft, und daß seine unbändige Eifersucht gerade in diesem Augenblicke den
teuflischen Prüfungsplan ersinnt, der Alles vernichten muß.

Wahr ist allerdings, daß die Hebbel'sche Tragödie, trotz einzelner packender
Situationen, trotz einer Fülle schöner und zum Theil origineller Gedanken,
trotz einer kräftigen und edeln Sprache, nicht unsern ganzen Menschen erfaßt.
Die handelnden Personen befinden sich schon beim ersten Auftreten sozusagen
in einem so vorgeschrittenen Stadium von Verbissenheit, daß sie uns unmöglich
noch volle Sympathie einflößen können. Der Gesammreindruck des Ganzen
wird wohl am zutreffendsten als "interessant" bezeichnet. Nichtsdestoweniger
verdient die Leitung der königlichen Bühne für die Vorführung des Stückes
aufrichtigen Dank. Nach meinem Geschmack ist es immer noch angenehmer,
sich einen Abend lang von einem wahren Genie, sei es auch nur ein "Kraft¬
genie", "foltern" zu lassen, als in gewissen neumodischen "Lust-" oder gar
"Schauspielen" die unmöglichsten Menschen und Verhältnisse an sich vorüber¬
gehen sehen und noch obendrein eine Fadaise über die andere mit in den
Kauf nehmen zu müssen.

Auf die Aufführung war große Sorgfalt verwendet. In der glänzenden
und historisch correcten Ausstattung werden wir wohl eine Wirkung des
Gastspiels der Meininger erblicken dürfen. Was die Besetzung der Rollen
anlangt, so muß jedoch eingestanden werden, daß für die Darstellung der
Riesengestalten der Hebbel'schen Muse die Kräfte unseres Schauspielhauses
nicht ausreichen. Am besten wurde noch Frau Erharrt ihrer Aufgabe als
Marianne gerecht. Die Momente des kalten Trotzes, der stolzen Erregung
und der Entsagung wurden von ihr meisterhaft wiedergegeben; minder gut
gelang das Anschlagen der weicheren Accente. Herr Ludwig verwandte auf
den Herodes alle erdenkliche Mühe, aber er füllt die Rolle nicht aus, weder
durch seine äußere Erscheinung, noch durch seine künstlerische Begabung.
Namentlich das Geberdenspiel war, von dem konstanten Rollen der Augen
abgesehen, nichts weniger als der adäquate Ausdruck dieser sturmbewegten
Seele. --

Mehr Aufsehen übrigens, als das vor 8 Tagen zum ersten Male über


selben Augenblicke, wo wir die volle Gewißheit erlangen, daß diese zwei
Menschen sich niemals wieder verstehen werden? Und so ist die Lage am
Schluß des dritten Acts. Marianne hat der Entrüstung über die Schande,
welche der Gatte ihr zugefügt, als er sie unter das Schwert stellte, freien
Lauf gelassen. Nun, da sie ihn zerknirscht sieht, geht ihr die beseligende
Hoffnung auf, daß er sein Unrecht begreife und bereue, und daß sich noch
Alles zum Guten wenden könne. Wir aber wissen, daß er gar keine Empfin¬
dung hat von der verübten Unbill, sondern daß ihn allein der Argwohn er¬
füllt, Marianne habe das Geheimniß durch den Bruch der ehelichen Treue
erkauft, und daß seine unbändige Eifersucht gerade in diesem Augenblicke den
teuflischen Prüfungsplan ersinnt, der Alles vernichten muß.

Wahr ist allerdings, daß die Hebbel'sche Tragödie, trotz einzelner packender
Situationen, trotz einer Fülle schöner und zum Theil origineller Gedanken,
trotz einer kräftigen und edeln Sprache, nicht unsern ganzen Menschen erfaßt.
Die handelnden Personen befinden sich schon beim ersten Auftreten sozusagen
in einem so vorgeschrittenen Stadium von Verbissenheit, daß sie uns unmöglich
noch volle Sympathie einflößen können. Der Gesammreindruck des Ganzen
wird wohl am zutreffendsten als „interessant" bezeichnet. Nichtsdestoweniger
verdient die Leitung der königlichen Bühne für die Vorführung des Stückes
aufrichtigen Dank. Nach meinem Geschmack ist es immer noch angenehmer,
sich einen Abend lang von einem wahren Genie, sei es auch nur ein „Kraft¬
genie", „foltern" zu lassen, als in gewissen neumodischen „Lust-" oder gar
„Schauspielen" die unmöglichsten Menschen und Verhältnisse an sich vorüber¬
gehen sehen und noch obendrein eine Fadaise über die andere mit in den
Kauf nehmen zu müssen.

Auf die Aufführung war große Sorgfalt verwendet. In der glänzenden
und historisch correcten Ausstattung werden wir wohl eine Wirkung des
Gastspiels der Meininger erblicken dürfen. Was die Besetzung der Rollen
anlangt, so muß jedoch eingestanden werden, daß für die Darstellung der
Riesengestalten der Hebbel'schen Muse die Kräfte unseres Schauspielhauses
nicht ausreichen. Am besten wurde noch Frau Erharrt ihrer Aufgabe als
Marianne gerecht. Die Momente des kalten Trotzes, der stolzen Erregung
und der Entsagung wurden von ihr meisterhaft wiedergegeben; minder gut
gelang das Anschlagen der weicheren Accente. Herr Ludwig verwandte auf
den Herodes alle erdenkliche Mühe, aber er füllt die Rolle nicht aus, weder
durch seine äußere Erscheinung, noch durch seine künstlerische Begabung.
Namentlich das Geberdenspiel war, von dem konstanten Rollen der Augen
abgesehen, nichts weniger als der adäquate Ausdruck dieser sturmbewegten
Seele. —

Mehr Aufsehen übrigens, als das vor 8 Tagen zum ersten Male über


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/80>, abgerufen am 27.07.2024.