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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Stück vollkommen verfehlt; nicht so vom Standpunkte der psychologischen
Wahrheit. Was der Dichter hier gezeichnet hat, ist einfach jenes, tragische
Phänomen, wie zwei miteinander zerfallene Ehegatten, obgleich sie die Un¬
möglichkeit einer Wiederversöhnung ahnen, dennoch nicht von einander lassen
können und in langsamer Marter sich gegenseitig verderben. Wie oft wird
von dem einen Theil der ehrliche Anlauf genommen. an das alte liebende
Herz des anderen Theiles zu appelliren! Sofort aber beginnen Stolz, Trotz
und Mißtrauen ihre Wirkung, die Anwandlung warmen Gefühls wandelt
sich in kalte Dialektik, erst wie feine Nadeln, dann wie derbe Pfeile fliegen
die Worte herüber und hinüber und die Scene endet mit vollständigem
Bruch. Das ist keine "Tüftelei", wie man Hebbel vorgeworfen hat, das ist
brutale Wahrheit! Auch in den einzelnen Handlungen der Personen liegt
nichts Naturwidriges. Herodes' Liebe zu Mariannen beruht auf dem nacktesten
Egoismus. Ist es da, bei seiner zügellosen Leidenschaftlichkeit, nicht ganz er¬
klärlich, daß ihm der Gedanke, die schöne Makkabäerin könne im Falle seines
Plötzlichen Todes einem Anderen die Hand reichen, unerträglich ist? Und da
einmal das Mißtrauen in ihm rege geworden, entspricht es nicht ganz diesem
gewaltthätigen Charakter, wenn er in die Todesgefahr die Gewißheit mit¬
nehmen will, daß. sollte er sterben, sein Weib ermordet wird, wenn es sich
nicht alsbald freiwillig den Tod gegeben? Weniger selbstverständlich scheint
Mariannens Handlungsweise. Doch auch hier entdecke ich kein Vergehen
gegen die psychologische Wahrscheinlichkeit. Was sie an Herodes fesselt, ist
der kühne Mannesmuth, der helle Geist und der hochherzige Sinn, der unter
der Hülle tyrannischer Rohheit verborgen liegt. Mit solch dämonischer Ge¬
walt hat der Zauber sie erfaßt, daß ein Leben ohne Liebe zu ihm ihr kein
Leben mehr dünkt. Darum ist es möglich, daß die sophistische Rechtfertigung
für den Mord ihres Bruders bei ihr verfangen, ja daß sie auch nach der
furchtbarsten Kränkung noch einmal neue Hoffnung schöpfen kann. Es ist
jener Hang zur Selbsttäuschung, welchem die menschliche Natur in den ver¬
zweifelten Lagen so gern nachgiebt. Erst als sie sich zum zweiten Male unter
das Schwert gestellt sieht, ist ihr die letzte Möglichkeit der Hoffnung genommen,
und nunmehr sucht sie den Tod. Nicht trotziger Stolz allein verhindert sie,
sich von dem grundlosen Verdacht der Treulosigkeit zu reinigen, sondern mehr
noch die Einsicht, daß glückliche Liebe zwischen ihr und Herodes nie mehr
bestehen kann. Darum will und muß sie sterben. Ich sehemicht, worin
es dieser psychologischen Entwickelung an Correctheit gebräche. -- Auch dem
Vorwurf, daß das Stück der eigentlich ergreifenden Momente entbehre, kann
ich nicht beistimmen. Ist es nicht eine tief erschütternde Scene, wenn wir
das unglückliche Weib den Zorn über die erlittene Schmach durch die Liebe
überwinden und noch einmal sich in süße Hoffnung einwiegen sehen in dem-


Stück vollkommen verfehlt; nicht so vom Standpunkte der psychologischen
Wahrheit. Was der Dichter hier gezeichnet hat, ist einfach jenes, tragische
Phänomen, wie zwei miteinander zerfallene Ehegatten, obgleich sie die Un¬
möglichkeit einer Wiederversöhnung ahnen, dennoch nicht von einander lassen
können und in langsamer Marter sich gegenseitig verderben. Wie oft wird
von dem einen Theil der ehrliche Anlauf genommen. an das alte liebende
Herz des anderen Theiles zu appelliren! Sofort aber beginnen Stolz, Trotz
und Mißtrauen ihre Wirkung, die Anwandlung warmen Gefühls wandelt
sich in kalte Dialektik, erst wie feine Nadeln, dann wie derbe Pfeile fliegen
die Worte herüber und hinüber und die Scene endet mit vollständigem
Bruch. Das ist keine „Tüftelei", wie man Hebbel vorgeworfen hat, das ist
brutale Wahrheit! Auch in den einzelnen Handlungen der Personen liegt
nichts Naturwidriges. Herodes' Liebe zu Mariannen beruht auf dem nacktesten
Egoismus. Ist es da, bei seiner zügellosen Leidenschaftlichkeit, nicht ganz er¬
klärlich, daß ihm der Gedanke, die schöne Makkabäerin könne im Falle seines
Plötzlichen Todes einem Anderen die Hand reichen, unerträglich ist? Und da
einmal das Mißtrauen in ihm rege geworden, entspricht es nicht ganz diesem
gewaltthätigen Charakter, wenn er in die Todesgefahr die Gewißheit mit¬
nehmen will, daß. sollte er sterben, sein Weib ermordet wird, wenn es sich
nicht alsbald freiwillig den Tod gegeben? Weniger selbstverständlich scheint
Mariannens Handlungsweise. Doch auch hier entdecke ich kein Vergehen
gegen die psychologische Wahrscheinlichkeit. Was sie an Herodes fesselt, ist
der kühne Mannesmuth, der helle Geist und der hochherzige Sinn, der unter
der Hülle tyrannischer Rohheit verborgen liegt. Mit solch dämonischer Ge¬
walt hat der Zauber sie erfaßt, daß ein Leben ohne Liebe zu ihm ihr kein
Leben mehr dünkt. Darum ist es möglich, daß die sophistische Rechtfertigung
für den Mord ihres Bruders bei ihr verfangen, ja daß sie auch nach der
furchtbarsten Kränkung noch einmal neue Hoffnung schöpfen kann. Es ist
jener Hang zur Selbsttäuschung, welchem die menschliche Natur in den ver¬
zweifelten Lagen so gern nachgiebt. Erst als sie sich zum zweiten Male unter
das Schwert gestellt sieht, ist ihr die letzte Möglichkeit der Hoffnung genommen,
und nunmehr sucht sie den Tod. Nicht trotziger Stolz allein verhindert sie,
sich von dem grundlosen Verdacht der Treulosigkeit zu reinigen, sondern mehr
noch die Einsicht, daß glückliche Liebe zwischen ihr und Herodes nie mehr
bestehen kann. Darum will und muß sie sterben. Ich sehemicht, worin
es dieser psychologischen Entwickelung an Correctheit gebräche. — Auch dem
Vorwurf, daß das Stück der eigentlich ergreifenden Momente entbehre, kann
ich nicht beistimmen. Ist es nicht eine tief erschütternde Scene, wenn wir
das unglückliche Weib den Zorn über die erlittene Schmach durch die Liebe
überwinden und noch einmal sich in süße Hoffnung einwiegen sehen in dem-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/79>, abgerufen am 27.07.2024.