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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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ihre Wahrheit und Augen^ssenheit im Innersten fühlte. Mir ging eine ganz
neue Welt auf, ich hätte jede Scene bis ins Kleinste malen können; ich lebte
mit Robinson, empfand mit ihm, er wurde mein anderes Selbst."

Und von nun an rastet der erwachte Geist nicht mehr; jeden, auch den
entlegensten Stoff weiß er zu verwerthen und seinem Bedürfniß anzupassen.
Die Schule bot dem Wissensdurst fast Nichts; nur aus sich selbst und aus
den wenigen Büchern, die in der abgelegenen Stadt, bei den sehr beschränkten
Mitteln seiner Eltern ihm erreichbar waren, konnte der junge Geist Nahrung
ziehn für sein Heranwachsen. Ein neuer Lehrer weiß endlich den lernbegierigen
Schüler auf neue Gebiete zu führen, seinen Gedanken neuen Inhalt zu geben,
aber uoch immer bleibt die eigene, innere Arbeit an sich selbst das bewegende
Element seiner Entwickelung. Er beginnt für sich das Studium der Mathe¬
matik, sucht sich im Zeichnen immer mehr zu vervollkommnen und lernt ohne
Lehrer die Flöte blasen.

Während so sich dem 13-jährigen Knaben ein schöner, vielverheißender
Horizont öffnet, freilich mit der traurigen Gewißheit, daß er seinen sehnlichsten
Wunsch, zu studiren, niemals wird erfüllen können, wird das Leben zu Hause
ein immer drückenderes. Der Vater ist durch den Trunk moralisch tief ge¬
sunken, die Familie verarmt gänzlich, trotz Fleiß und Sparsamkeit der Mutter,
die beiden jüngsten Geschwister erliegen in einer Woche einer herrschenden
Pockenepidemie. In all diesem Elend, neben dem an Charakter-Schwäche
untergehenden Vater, tritt uns nur eine Lichtgestalt entgegen: Die Mutter.
Die Mutter ist es, die dem Sohne die dürftige Kindheit erhellt, die ihn auf¬
muntert und anspornt in seinem Streben nach Kenntnissen, die den Kindern
auch in bitterer Armuth durch aufopfernden Fleiß, durch liebliche Erzählungen
und Lieder das Christfest zum schönsten Tag des Jahres weiht, die den Sohn
auszusöhnen sucht mit seiner durch die Noth gebotenen Lebensstellung als
Goldschmied-Lehrling. Und wenn später, da der Gelehrte auf der Höhe seines
Wirkens steht, die Frage uns nahe tritt: Warum hält der Naturforscher sich
fern von jener Richtung, die unter dem Einfluß von Voltaire und Rousseau
und auf Grund eben der Naturwissenschaften die Rückkehr erstrebt zur Natur,
die den Bruch mit der Cultur und statt der christlichen Idee die natürliche
Vernunft auf ihre Fahne schreibt? Warum bleibt der künstlerisch begabte
Geist, der jeden neugebotenen Stoff sich so fruchtbringend anzueignen weiß,
unberührt von der Sturm- und Drangperiode unserer Literatur, die, sich an¬
lehnend an die neue Philosophie, alles bisher Gültige niederzureißen strebt?
Dann haben wir wohl zur Erklärung den sehr natürlichen Widerstand des
Autodidakten, der sich das nicht nehmen läßt, was er selbst sich so mühsam
erst erwerben mußte, während es anderen leicht entgegengebracht worden; aber
es taucht doch dabei immer wieder die Gestalt der Mutter auf, die dem Kinde


ihre Wahrheit und Augen^ssenheit im Innersten fühlte. Mir ging eine ganz
neue Welt auf, ich hätte jede Scene bis ins Kleinste malen können; ich lebte
mit Robinson, empfand mit ihm, er wurde mein anderes Selbst."

Und von nun an rastet der erwachte Geist nicht mehr; jeden, auch den
entlegensten Stoff weiß er zu verwerthen und seinem Bedürfniß anzupassen.
Die Schule bot dem Wissensdurst fast Nichts; nur aus sich selbst und aus
den wenigen Büchern, die in der abgelegenen Stadt, bei den sehr beschränkten
Mitteln seiner Eltern ihm erreichbar waren, konnte der junge Geist Nahrung
ziehn für sein Heranwachsen. Ein neuer Lehrer weiß endlich den lernbegierigen
Schüler auf neue Gebiete zu führen, seinen Gedanken neuen Inhalt zu geben,
aber uoch immer bleibt die eigene, innere Arbeit an sich selbst das bewegende
Element seiner Entwickelung. Er beginnt für sich das Studium der Mathe¬
matik, sucht sich im Zeichnen immer mehr zu vervollkommnen und lernt ohne
Lehrer die Flöte blasen.

Während so sich dem 13-jährigen Knaben ein schöner, vielverheißender
Horizont öffnet, freilich mit der traurigen Gewißheit, daß er seinen sehnlichsten
Wunsch, zu studiren, niemals wird erfüllen können, wird das Leben zu Hause
ein immer drückenderes. Der Vater ist durch den Trunk moralisch tief ge¬
sunken, die Familie verarmt gänzlich, trotz Fleiß und Sparsamkeit der Mutter,
die beiden jüngsten Geschwister erliegen in einer Woche einer herrschenden
Pockenepidemie. In all diesem Elend, neben dem an Charakter-Schwäche
untergehenden Vater, tritt uns nur eine Lichtgestalt entgegen: Die Mutter.
Die Mutter ist es, die dem Sohne die dürftige Kindheit erhellt, die ihn auf¬
muntert und anspornt in seinem Streben nach Kenntnissen, die den Kindern
auch in bitterer Armuth durch aufopfernden Fleiß, durch liebliche Erzählungen
und Lieder das Christfest zum schönsten Tag des Jahres weiht, die den Sohn
auszusöhnen sucht mit seiner durch die Noth gebotenen Lebensstellung als
Goldschmied-Lehrling. Und wenn später, da der Gelehrte auf der Höhe seines
Wirkens steht, die Frage uns nahe tritt: Warum hält der Naturforscher sich
fern von jener Richtung, die unter dem Einfluß von Voltaire und Rousseau
und auf Grund eben der Naturwissenschaften die Rückkehr erstrebt zur Natur,
die den Bruch mit der Cultur und statt der christlichen Idee die natürliche
Vernunft auf ihre Fahne schreibt? Warum bleibt der künstlerisch begabte
Geist, der jeden neugebotenen Stoff sich so fruchtbringend anzueignen weiß,
unberührt von der Sturm- und Drangperiode unserer Literatur, die, sich an¬
lehnend an die neue Philosophie, alles bisher Gültige niederzureißen strebt?
Dann haben wir wohl zur Erklärung den sehr natürlichen Widerstand des
Autodidakten, der sich das nicht nehmen läßt, was er selbst sich so mühsam
erst erwerben mußte, während es anderen leicht entgegengebracht worden; aber
es taucht doch dabei immer wieder die Gestalt der Mutter auf, die dem Kinde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/57>, abgerufen am 01.09.2024.